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Strom versus Naturschutz
National- und Ständerat sind auf Kollisionskurs

Steinböcke auf einem Schneefeld. Über ihren Lebensraum – und jenen vieler weiterer Tiere – streiten National- und Ständerat. 
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Fünfzig Rednerinnen und Redner meldeten sich im Nationalrat zu Wort – und die meisten beklagten das Artensterben. Dieses sei dramatisch, hiess es. Mehr als ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten in der Schweiz sei gefährdet. Der Anlass für diese Klage: Der Nationalrat debattierte über die Biodiversitätsinitiative, die einen stärkeren Schutz der Artenvielfalt verlangt.

Der Entscheid wird am Mittwoch gefällt. Der Nationalrat wird die Initiative wohl ablehnen, dürfte aber einem indirekten Gegenvorschlag zustimmen: Der Bundesrat soll Kerngebiete zum Schutz von Lebensräumen bestimmen. Zusätzlich zu den heute existierenden Biotopen von nationaler Bedeutung sollen Biodiversitätsgebiete von nationaler Bedeutung ausgeschieden werden. Mehr Flächen kämen zwar nicht hinzu, doch würde die Qualität der existierenden verbessert.

Durchgesetzt hat sich ein Vorschlag von FDP-Nationalrat Matthias Jauslin, der weniger weit geht als der Bundesratsvorschlag. In dieser Version könnte der Gegenvorschlag trotz des Widerstands der SVP und eines Teils der Mitte eine Mehrheit finden. «Der Handlungsbedarf ist für die FDP klar gegeben», sagte FDP-Nationalrätin Susanne Vinzenz-Stauffacher.

Bloss: Ihre Parteikollegen im Ständerat scheinen das anders zu sehen. Während der Nationalrat den Naturschutz ausbauen will, ist die kleine Kammer dabei, den Schutz empfindlich zu schwächen. Der Anlass: Der Ständerat berät – einen Tag später – die Vorlage für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien.

«Eines der schönsten Täler»

In der vorberatenden Ständeratskommission setzten sich FDP- und Mitte-Vertreter durch. Im Visier haben sie zum Beispiel das Maderanertal im Kanton Uri – laut der lokalen Tourismusorganisation eine «wilde und romantische Bergwelt» – oder das Val Roseg im Kanton Graubünden, «eines der schönsten Seitentäler des Engadins». Beide sind Biotope von nationaler Bedeutung. Bisher bedeutete das, dass dort keine Wasserkraftwerke oder andere Anlagen zur Energieproduktion gebaut werden durften. Das will die Ständeratskommission nun ändern. Das Verbot soll gestrichen werden.

Geht es nach dem Willen der Kommission, dürfen Naturschutzbestimmungen den Bau von Anlagen zur Produktion erneuerbarer Energien zudem «weder erschweren noch verunmöglichen». Solange die Energie-Ausbauziele nicht erreicht sind, soll der Naturschutz der Stromproduktion untergeordnet werden. 

Im Val Roseg dürfen bisher keine Wasserkraftwerke oder andere Anlagen zur Energieproduktion gebaut werden.

Was bis vor kurzem undenkbar gewesen wäre, haben die Diskussionen über den drohenden Strommangel möglich gemacht. Alles könne man nicht haben, heisst es im Lager der Befürworter. Entweder Naturschutz oder Strom. Also Strom.

Die Umweltverbände sind entsetzt. Setze sich dieser Vorschlag durch, sei der Schaden «dramatisch, irreversibel und unverhältnismässig», sagt Julia Brändle vom WWF. Ein Drittel der bedrohten Arten lebe in Biotopen von nationaler Bedeutung, obwohl diese nur zwei Prozent der Landesfläche ausmachten. «Für die Biodiversität sind es die wertvollsten zwei Prozent.»

Todesstoss für die Fische

Verheerende Auswirkungen hätte aus Sicht der Umweltverbände auch ein weiterer Vorschlag: Die Ständeratskommission will Bestimmungen zur Restwassermenge bis 2035 ausser Kraft setzen. Das ist jene Menge Wasser, die bei einem Wasserkraftwerk unterhalb der Wasserentnahme vorhanden sein muss – unter anderen für Fische wie die Seeforelle, die jährlich zu ihren Laichgründen wandern.

Die heutigen Vorschriften wurden Anfang der 1990er-Jahre beschlossen und müssten aus Sicht von Wissenschaftlern wegen des Klimawandels eigentlich verschärft werden. Für Wasserkraftwerke, die vorher bewilligt wurden, greifen sie jedoch noch gar nicht. Diese Werke müssen die Vorschriften erst dann umsetzen, wenn die Konzession für die Wasserkraftnutzung erneuert wird.

Bei vielen Kraftwerken stehen Neukonzessionierungen an. Den Bergkantonen käme es gelegen, wenn die Bestimmungen zur Restwassermenge zu diesem Zeitpunkt ausser Kraft wären: Sie würden dann die neue Konzession ohne Restwasservorschriften erhalten – voraussichtlich für achtzig Jahre. 

Durch das Opfern des Naturschutzes könnten höchstens 1,5 Terawattstunden gewonnen werden, sagt die Umweltallianz.

Der Schaden wäre gross, sagen die Umweltverbände. Viele Gewässerlebewesen seien in der Schweiz bereits ausgestorben oder stark gefährdet, und mehr als 60 Prozent der verbleibenden Fischarten stünden auf der Roten Liste. 

Doch wie gross wäre der Nutzen? «Jede Kilowattstunde zählt», heisst es im Lager der Befürworter. Die Umweltallianz sieht das anders. Durch das Opfern des Naturschutzes könnten höchstens 1,5 Terawattstunden gewonnen werden. Das seien schlichtweg irrelevante Strommengen, die schneller, umweltverträglicher und erst noch günstiger bereitgestellt werden könnten – durch Fotovoltaik auf Dächern und weniger Stromverschwendung. 

Zu ähnlichen Schlüssen kommt der Bund: Er sieht grosses Sparpotenzial bei einem effizienten Stromverbrauch. Das Wasserkraftpotenzial dagegen sei beinahe ausgeschöpft, schreibt das Bundesamt für Umwelt. «95 Prozent der zur Stromproduktion geeigneten Flüsse und Bäche werden bereits dazu genutzt.» Zwar sollen auch die restlichen geeigneten Gewässer genutzt werden – aber eben nur die geeigneten.

Am «Runden Tisch Wasserkraft», den Umwelt- und Energieministerin Simonetta Sommaruga einberufen hatte, ging es um die Frage, welche Wasserkraftprojekte den grössten Nutzen bei möglichst geringem Schaden bringen. Von ursprünglich 33 Projekten wählte der runde Tisch vergangenen Winter 15 aus, mit einer Speicherproduktion im Umfang von insgesamt 2 Terawattstunden. Hinter diesen Projekten stehe man, betont die Umweltallianz, der neben dem WWF auch Greenpeace, Pro Natura und der VCS angehören. Wasserkraftwerke in den wertvollsten Gebieten zu bauen, sei dagegen nicht sinnvoll.

«Der Wille zum Kompromiss schwindet»

Diese Auffassung vertritt auch Roberto Zanetti, SP-Ständerat und Präsident des Fischerei-Verbandes. Gemeinsam mit den Vertreterinnen der Grünen und SVP-Ständerat Jakob Stark will er im Ständerat den «Putschartikel» bekämpfen. Gelinge das nicht, könne jedes Tal zubetoniert werden, sagt Zanetti. Ausserdem drohe ein politischer Schaden. 

«In diesem Land lösen wir Probleme mit Kompromissen an runden Tischen. Wird ein solcher Kompromiss anschliessend von der Politik massakriert, schwinden das Vertrauen und der Wille zum Kompromiss», sagt Zanetti. Die Gegner machen auch Verfassungswidrigkeit geltend. Trotzdem ist denkbar, dass das Parlament inkohärente Beschlüsse fasst – dass der Nationalrat Ja sagt zu mehr Naturschutz, während der Ständerat den geltenden schwächt. 

«Jede Kilowattstunde zählt», heisst es im Lager der Befürworter. Staumauer auf dem Grimselpass.

Energie- und Umweltministerin Simonetta Sommaruga wies im Nationalrat darauf hin – und machte sich für mehr Schutz stark. «Biodiversität ist kein Luxus», sagte sie. Die Artenvielfalt sei existenziell, auch für die Landwirtschaft. Und: Mit dem Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative würde der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht verhindert.

FDP-Ständerat Ruedi Noser, der die Vorschläge der Ständeratskommission mitgeprägt hat, relativiert den Kollisionskurs der Räte. Aus seiner Sicht handelt es sich bei den Kommissionsvorschlägen um eine Art Versicherung. «Werden die Massnahmen zum Ausbau der Solarenergie wie beschlossen umgesetzt und die Wasserkraftprojekte des runden Tisches realisiert, ist es nicht nötig, den Naturschutz zu ritzen.» Für den Fall, dass die Projekte mit Einsprachen blockiert würden, müsse aber die Möglichkeit geschaffen werden.