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Meisterentscheidung vertagt
Napoli vergibt den ersten Matchball

Napolis Goalgetter Chwitscha Kwarazchelia ist vorerst enttäuscht.
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Es hätte ja so schön sein können, die Apotheose daheim in Neapel. Herbeigebetet, herbeigesehnt, erduldet so lange schon. Neapel hätte am Sonntag italienischer Fussballmeister werden können. Sollen. Müssen. Zum dritten Mal erst in der Geschichte der Società Sportiva Calcio, der SSC. 33 Jahre nach dem zweiten Titel. Und diese Zahl wirkt ja noch viel runder, wenn sie ausgeschrieben dasteht: dreiunddreissig. Dann entfaltet sie diese historische Schwere, die man der langen Wartezeit natürlich völlig zu Recht zumisst. 33 Jahre. Mehr als eine Generation. Wurde nicht Jesus 33?

Nun werden sie noch ein paar Tage lang ihren Chor vortragen, einen in Zukunftsform. «Vinceremo, vinceremo il tricolor’!» Wir werden die Trikolore gewinnen, das Meisterabzeichen in den drei Landesfarben eben. So tönte es einen Sonntag lang in Neapel, immer wieder angestimmt, am Bahnhof schon, Napoli Centrale, dann den Corso Umberto I. herunter, durch die Via Toledo, die eigentlich alle Via Roma nennen, rüber zur Piazza del Plebiscito, dem Salotto der Stadt, der Bühne jeder Lebensfreude. Alles war bereit.

Neapel, 30. April 2023, ein Sonntag wie im Thriller. Vorausgegangen war mal wieder das übliche wunderbare Drama. Das Spiel Napolis gegen Salernitana, kampanisches Derby, hätte eigentlich am Samstag stattfinden sollen. Doch dann wurde es in letzter Minute mal rasch auf den Sonntag verschoben, in den Nachgang zu Inter Mailand gegen Lazio Rom – und zwar vom Innenministerium, wegen Sicherheitsbedenken, eine Staatsangelegenheit.

Angefragt hatte Aurelio De Laurentiis, der Präsident Napolis, der, und auch das sollte nicht verwundern, ein römischer Filmproduzent ist. Einer mit Sinn für Plots, für Spannungsbögen. So richtig einleuchten mochten die Sicherheitsbedenken in diesem Fall nämlich niemandem, die Fernsehsender waren aufgebracht, die anderen Vereine auch. Aber so war es nun mal. «Ein Schritt vom Himmel entfernt», schrieb «Il Mattino», die Zeitung der Stadt.

Die Chronologie des Sonntagnachmittags

12.30 Uhr, das Spiel in Mailand beginnt. Gewinnt Lazio, kann Napoli noch nicht Meister werden, arithmetisch unmöglich. Nicht an diesem Sonntag, daheim im wohlig benannten Stadio Diego Armando Maradona draussen, in Fuorigrotta, Spielbeginn 15 Uhr. Die ganze Inszenierung, der Tag des Herrn als «Scudetto-Day», sie wäre ein Flop, eine Antiklimax. Es würde dann heissen: Sagten wir es doch, man greift dem Schicksal nicht vor.

12.56 Uhr. Lazio geht in Führung, und vor der Bar an der Via Chaia, die einen Grossbildschirm vors Lokal gehängt hat, legt sich Stille auf die dichte Schar der Zaungäste – hundert, zweihundert? Plötzlich still. Manche gehen in der Pause rauf zu Donna Sofia für eine Pizza portafoglio, eine zusammengefaltete Margherita, isst sich leichter beim Gehen. Ein bisschen wenig Salz heute, niemand klagt. Die Menschen tragen azurne Trikots aus allen Epochen, bei den alten blättert der Sponsor ab, ein Mineralwasser. Kinder auf den Schultern ihrer Väter, Letztere deutlich bewegter als Erstere. 33 Jahre! In Neapel erinnert man nun gern an den Titel eines berühmten Films mit dem immensen, unvergessenen neapolitanischen Schauspieler Massimo Troisi: «Scusate il ritardo». Entschuldigt die Verspätung.

Die Spieler von Inter feiern den Sieg gegen Lazio, das wichtige Punkte liegen lässt und Napoli alle Chancen eröffnet an diesem Tag.

14.05 Uhr, Inter gleicht aus, die Himmelspforte öffnet sich um einen Spalt. Und vor der Bar an der Via Chiaia kippt die Stimmung in den Erlösungsmodus. Die Tröten sind so laut, dass ein Hund jeden Ton mit seinem Gebell quittiert. «Poverino», sagt eine Frau. «Der Arme, der weiss wohl nicht mehr, wie ihm geschieht.»

14.09 Uhr: Inter dreht das Spiel und geht in Führung.

14.17 Uhr: Inter zieht weg.

Nun steht das Paradies der Neapolitaner weit offen, blendend hell. Und weil den Neapolitanern nichts lieber ist, als über Juventus Turin zu triumphieren, mehr noch als über Inter, Milan, Lazio und Roma, weil sich da die grosse Geschichte und die grosse Politik zu einem Gemenge mischen, das durchaus mal wieder einer längeren Betrachtung bedürfen würde, intonieren sie nun: «Chi non salta, juventino è!» Wer nicht springt, ist Juventino. Ein paar niederländische Touristen bleiben wie angewurzelt stehen. Plötzlich sieht man T-Shirts mit dem Aufdruck «Campioni d’Italia». Die trugen sie wohl bis jetzt unter dem Trikot.

15 Uhr, es ist Spielbeginn im Stadio Maradona. Was ist Diego Armando Maradona da, was ist er überall: sein Name, sein Konterfei, das D10S, alle Chiffren und Reminiszenzen an den Pibe de Oro auf den billigen Fahnen, den Leibchen, den Banderolen, als wäre das, was da gerade zu passieren scheint, auch als sein letztes Geleit gedacht. Napoli hat ja nur mit ihm je gewonnen, 1987 und 1990. Durch ihn, dank ihm. Das Stadion ist das alte von damals, nur etwas renoviert, und es fasst nun mal nur 54’000 Zuschauer. Alle anderen drehen Runden in der Stadt und unten an der Meerespromenade am Golf. Was für ein Set, und der Vesuv wird von Wolken umspielt. Seit man sich die Fussballspiele aufs Handy streamt, ist auch die «Radiolina» aus der Mode gefallen, das kleine Radiogerät, das die Herren früher ans Ohr pressten beim Flanieren mit der Familie am Sonntagnachmittag.

Harter Kampf auf dem Rasen: Napolis Victor Osimhen  versuchts per Kopf.

16.15 Uhr, noch immer ist kein Tor gefallen. Auf den Marmorbänken vor dem Rathaus sagt einer: «Wir treffen nicht mehr, schon lange nicht mehr, wie viele Tore haben wir in den letzten Spielen schon geschossen?» Der Thriller, eine halbe Stunde noch, Angriff um Angriff, die Salernitana blockt alles ab. Man kann jetzt auch einfach die Augen schliessen und in die Stadt reinhören, jeder Angriff ein choraler Seufzer aus den Gassen.

16.20 Uhr. Mathías Olivera, linker Aussenverteidiger auf Abruf, Uruguayer aus Montevideo, 25 Jahre alt, trifft mit dem Kopf zur Führung. Aber was wäre dieses Finale, wenn es einfach so dahinschwebte zu einem absehbaren Ende.

Napolis Mathías Olivera trifft zur Führung – doch die Freude klingt bald ab …

16.40 Uhr, Salernitana gleicht aus, fast aus dem Nichts. Und wieder wird es ganz still.

Die Piazza del Plebiscito wäre jetzt voll, weil die Freude im Süden nur dann richtig rund ist, wenn sie geteilt wird. Gleich beginnt es zu regnen. Napoli wird schon noch Meister werden, vielleicht schon in der sechstletzten Spielrunde. Die findet Mitte Woche statt, Mittwoch und Donnerstag. Ist halt nicht Sonntag. Die Hauptprobe lief schief. Scusate il ritardo.