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Nachwuchs im Sägemehl
Schwingen für Stadtkinder? Aber sicher!  

Axel Kleinberger schwingt selber seit zehn Jahren hier im Zürcher Schwingklub, jetzt will er dafür sorgen, dass sein Klub mehr Nachwuchs bekommt. 
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Dieser Artikel erschien erstmals am 1. September 2023.

Sein Blick ist so ernst, wie der eines Schwingers sein muss, wenn er ins Sägemehl steigt. Aber heute soll die böse Miene nicht einen Gegner einschüchtern. Es ist die Nachwuchssituation seines Klubs, die ihm den Grimm ins Gesicht treibt.

Er heisst Axel Kleinberger und ist seit zehn Jahren Schwinger im Stadtzürcher Schwingklub. Und diesem versucht er nun die Zukunft zu sichern – mit einem Schnupper-Schwingtag. Denn «wenn wir nicht bald neue Schwingerinnen und Schwinger finden, wird es wohl in ein paar Jahren aus sein», sagt Kleinberger. Wie schleichend der Tod des über hundertjährigen Klubs eintreten wird, kann er nicht abschätzen, aber dass der Sterbeprozess schon begonnen hat, zeigen die verstaubten Trophäen in der Ecke der Schwinghalle und die sinkenden Mitgliederzahlen: «Wir führen zwar keine Statistik über die Entwicklung unserer Vereinszahlen, aber im Moment haben wir nur vier Junioren. Der Teamspirit unter ihnen ist zwar gut, aber es sind zu wenige.»

Die Halle am Rigiplatz soll also am Samstag – und in Zukunft – mit kindlichem Hosenlupf-Geschrei belebt werden. Damit das Sägemehl fliegt und die Kinder erscheinen, hat Kleinberger einen alten Wettkampf reaktiviert. «In den 70er-Jahren, als wir noch viele Eidgenossen hatten (so heissen Schwinger, wenn sie am Eidgenössischen Schwingfest einen Kranz holen, Anm. der Redaktion), gab es noch das Stadtschwingen. Bei diesem wurde immer der stärkste Stadtzürcher gesucht.»

In den 90ern sei dieser Wettbewerb abgeflaut, am Samstag soll er wieder aufleben – in abgewandelter Form: «Wir suchen diesmal das stärkste Zürcher Kind.» Es gibt am Vormittag eine Einführung in ein paar einfache Grundschwünge, am Nachmittag ein kleines Schwingfest mit Grill und Getränken und am Schluss für jedes Kind eine Gabe vom Tisch.

Warum immer weniger Stadtkinder Schwingen wollen

Aber wollen denn die Kinder heute überhaupt noch die Stärksten sein? Kleinberger glaubt, ja: «Jedes Kind mag es zu raufen, sie dürfen es aber in den seltensten Fällen tun, ohne dass Erwachsene einschreiten. Beim Schwingen können sie ihre Kräfte messen, ohne sich zu verletzen», sagt er. Ausserdem zeigen die eidgenössischen Zahlen, dass die Anzahl Jungschwinger über die Jahre konstant bleibt und sogar steigt, während die Anzahl der Aktivschwinger abnimmt – obwohl das Schwingen-«Schauen» am TV oder in der Arena populärer geworden ist. 

In der Stadt Zürich sieht es anders aus. Tendenz sinkend. Kleinbergers Erklärung dafür, dass immer weniger Stadtkinder schwingen wollen, ist, «dass die Auswahl an anderen Sportarten zu gross ist». Kinder können in Zürich Fussball spielen, Tennis, Handball, Volleyball oder auch ganz wilde Sportarten wie Korbfrisbee. Und auch wenn Kleinberger recht haben sollte und das Raufen tatsächlich einem Bedürfnis von Kindern entspricht, gibt es in der Stadt unzählige Methoden, um zu balgen: Taekwondo, Karate, Kung-Fu, Judo, Mixed Martial Arts, Jiu Jitsu, Kickboxen, Boxen, Thai Chi und, und, und. 

Alles Sportarten, die «irgendwie auch cooler klingen als Schwingen», sagt Michael Jucker, Sporthistoriker und Leiter der Plattform «Swiss Sports History». Auch ihn haben wir gefragt, wie sich erklären lassen könnte, dass das Schwingen in der Stadt Zürich ein Nachwuchsproblem hat.

Ein kurzer Blick in die Geschichte des Stadtschwingens

Interessant am Schwingen sei, dass es zwar immer schon eine ländliche Sportart, aber um 1900 vor allem städtisch geprägt gewesen sei. «Damals haben sich die Städte das Schwingen angeeignet, und die Schwingfeste fanden fast alle in den Städten statt.» Das «Unspunnen» wurde beispielsweise von städtischen Patriziern in Bern gegründet. Auch der Eidgenössische Schwingerverband sei lange von Städtern dominiert gewesen. Die Städte hätten das Schwingen organisiert, politisiert und zum Nationalsport gemacht, ergänzt Jucker. Und sich dafür an der ländlichen Ikonografie bedient. «Zum Beispiel waren auf den Plakaten für Zürcher und Basler Schwingfeste im Hintergrund der Stadt Berge, Alphornbläser und Kühe zu sehen, obwohl die nicht besonders städtisch sind.» 

Eine Ecke in der Schwinghalle beim Rigiplatz zeigt mit Trophäen und Plakaten die goldigeren Zeiten des Zürcher Schwingklubs. 

Das ging gut so bis in die 1960er-Jahre hinein. Dann wandelte sich die Gesellschaft, andere Sportarten wie Fussball oder Handball wurden populärer. Hinzu kam der demografische Wandel der Städte. «Viele Migrationsgruppen können sich nicht mit dem Schwingen identifizieren. Noch heute gibt es sehr wenige Tessiner Schwinger oder gar Schwinger mit migrantischem Hintergrund», sagt der Sporthistoriker. Vielleicht schreckt ebendiese Tatsache auch viele Neuschwinger ab? Wird die Sportart als zu «exklusiv schweizerisch» wahrgenommen? Oder anders gesagt: zu konservativ? Michael Jucker sieht das anders: «Der Schwingerverband ist nicht mehr so konservativ, wie ihm oft unterstellt wird.» Er nennt als Beispiel das Outing vom Bündner Schwinger Curdin Orlik im 2020. Da habe es keine Anfeindungen innerhalb des Verbands gegen den Sportler gegeben, und das sei ein gutes Zeichen.

Ausserdem diene das Image nur bedingt als Erklärung dafür, warum es dem Zürcher Stadtklub an Nachwuchs fehle, denn «Kinder machen sich keine Gedanken darum, ob dieser Sport zu ländlich-konservativ ist, sie suchen sich meistens einfach den Sport aus, der cool ist und den ihre Freunde machen», sagt Jucker.

Fehlende Perspektiven

Sind Messi, Ronaldo und Co. mit ihren flinken Füssen die populäreren Vorbilder als Glarner und Sempach mit ihren Nacken wie Oberschenkel? Oder wie lässt sich erklären, dass von vielen Jungs der Satz zu hören ist: «Wenn ich gross bin, werde ich Fussballprofi», aber fast nie: «Wenn ich gross bin, werde ich Schwingerkönig?» Ein Unterschied zwischen Messi und Glarner: Messis Sport ist sein Beruf. Vom Schwingen lässt sich allerdings kaum leben. Im Schwingsport fehle es an Professionalisierungsperspektiven, sagt der Sporthistoriker Jucker. Das biete vielen wohl keine Optionen.

Idole sind aber auch im Schwingsport wichtig, das zeigen wiederum die Zahlen. Über 600 Jungschwinger stürmten schweizweit in die Schwingkeller, als der damals erst 20-jährige Kilian Wenger 2010 sich überraschend den Muni und den Königskranz erschwang. Nach jedem Eidgenössischen, also alle drei Jahre, lasse sich eine Welle von Neuanmeldungen verzeichnen, auch im Kanton Zürich, schreibt Bruno Auf der Maur vom kantonalen Verband. Aber sie verebbe in der Regel wieder vor dem nächsten Eidgenössischen.

Idee: Fitness-Schwingen 

Linus Schöpfer ist Kulturredaktor der «NZZ am Sonntag». 2019 schrieb er ein Buch zur Kulturgeschichte des Schwingens mit dem Titel «Schwere Kerle rollen besser». Er hat neben den bereits gehörten Erklärungen für das Nachwuchsproblem auch eine praktische Erklärung. «Schwingen ist technisch anspruchsvoll. Einfach mal drauflosschwingen ist keine allzu kluge Idee.» Heutzutage wolle Jung wie Alt zwar fit sein, aber sich nicht mit Zerrungen und Prellungen herumplagen, geschweige denn mit Schlimmerem.

Sein Vorschlag wäre deshalb die Erfindung eines «Fitness-Schwingens» – analog zum Fitness-Boxen, bei dem man Kraft, Beweglichkeit und Technik trainiert, ohne ständig eine Gehirnerschütterung zu riskieren. Eine solchermassen entschärfte Form des Schwingens wäre gerade für gesundheitsbewusste Städter attraktiv, vermutet Schöpfer. Auch könnte sie der einen oder dem anderen den Einstieg ins «richtige» Schwingen erleichtern, ergänzt er. 

Auch der Sporthistoriker Michael Jucker hätte eine Idee, wie das Schwingen für die Jungen Fussball-Potenzial bekommen könnte. Er wagt die These, dass Rivalitäten und Meisterschaften etwas mehr Pep ins Schwingen bringen könnten. Zum Beispiel indem man eine Art jährlich wiederkehrenden Cup oder eine Meisterschaft durchführen könnte, die auf Schwinger-Teams aus den Verbänden beruhen würde. Königreiche feiern und nicht nur einzelne Könige. 

Schwingen in der Schule 

Axel Kleinbergers Ansatz für mehr Mitglieder im Schwingklub: in die Schulen gehen. «Ich habe verschiedene Schulen angeschrieben, ob sie im Rahmen einer Geschichts- oder Sportlektion in ein Schnupperschwingen kommen wollen.» Immerhin sei das Schwingen «unser Nationalsport und somit schon was anderes als Fussball». Ausserdem hätten manche ältere Schulhäuser in der Stadt noch Schwingkeller. Das zeigt, «dass Schwingen mal eine viel grössere Bedeutung hatte». 

Dem Sport- und Schulamt der Stadt Zürich sind auf Anfrage keine Schwingkeller bekannt, die heute als solche noch genutzt werden, allerdings gebe es tatsächlich in den Schulhäusern Liguster und im Schulhaus In der Ey noch alte Schwingkeller. Das Sportamt arbeitet für den freiwilligen Schulsport mit verschiedenen Organisationen zusammen. Schwingen ist noch nicht Teil des Angebots. «Einen Schwingkurs würde das Sportamt anbieten, falls ein Schwingklub mit einer Anfrage an uns herantritt und die Rahmenbedingungen erfüllt», schreibt das Amt auf Anfrage. 

Die Zwilchhosen werden noch nicht in die Ecke geworfen, der Zürcher Schwingklub versucht, neuen Nachwuchs zu finden. 

Die Schulen anzufragen, ist nur ein erster Schritt, den Kleinberger macht, bevor er die Zwilchhose seines Klubs in die Ecke wirft. Sein Rettungsplan für den Zürcher Schwingklub sieht noch weitere Massnahmen vor, die allerdings noch nicht ganz spruchreif seien. Zum Beispiel könnte Kleinberger – der als Filmregisseur arbeitet – sich vorstellen, einen Werbespot zu drehen. Oder man könnte die Schwinghalle aufschönen, indem man auf den nackten Wänden den einzigen Stadtzürcher Schwingkönig Karl Thommen zelebriert. Denn es ist übrigens genau hundert Jahre her, dass Thommen Schwingerkönig – und Idol – wurde. 

Schnupper-Schwingtag: Sa, 2.9.2023, 10 bis 17 Uhr. Winterthurerstrasse 5, Zürich. Für Mädchen und Knaben zwischen 8 und 15 Jahren und gratis.