Analyse zum Brand im FlüchtlingslagerDie Tragödie von Moria war absehbar
Hilfsorganisationen warnen seit Monaten vor einer Katastrophe in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln. Die Menschen leben dort zusammengepfercht, das Coronavirus breitet sich aus.
Ob Aufstand, Angriff oder Unglück: Die Tragödie auf der griechischen Insel Lesbos war absehbar. Moria ist das grösste Flüchtlingslager Griechenlands und Europas. Es ist seit Jahren völlig überfüllt. Laut dem griechischen Migrationsministerium leben dort etwa 12’600 Flüchtlinge und Migranten, andere schätzen die Zahl auf 16’000. Ausgelegt ist das Lager für knapp 2800 Menschen. In weiteren Lagern auf anderen Inseln befinden sich etwa 30’000 Geflüchtete und Migranten.
In Moria leben die Insassen unter prekären Umständen, meist in Zelten, auf engstem Raum, teilweise ohne Zugang zu fliessendem Wasser, bei minimaler Gesundheitsversorgung. Sie stehen täglich mehrere Stunden für Essen, Wasser und Toilettengänge in Schlangen. Grundsätzliche Hygieneregeln können kaum eingehalten werden, der Corona-Abstand noch weniger. (Lesen Sie dazu: Fünf Schweizerinnen und Schweizer erzählen von der Hölle in Moria)
Insofern war es nur eine Frage der Zeit, wann die Pandemie sich ausbreiten würde. Mitte August war der erste Corona-Fall in einem Flüchtlingscamp auf der Insel Chios aufgetreten. Der Betroffene konnte im Krankenhaus der Insel isoliert und die weitere Ausbreitung gestoppt werden.
Vergangene Woche traf es dann Moria zum ersten Mal. Es handelt sich um einen 40 Jahre alten Somalier, der schon als Flüchtling anerkannt war und die Insel hatte verlassen dürfen. Er war in Athen auf der Strasse gelandet und deshalb Ende August nach Lesbos zurückgekehrt. Wo er sich angesteckt hat, ist nicht bekannt.
Das Lager Moria wurde unter Quarantäne gestellt. Schon seit Monaten können sich die Insassen ausserhalb des Lagers nicht mehr frei bewegen. Auf der Insel sind etwa 100 Ansteckungen registriert, das Virus breitet sich aus. Am Dienstag hiess es dann, 35 Moria-Insassen seien infiziert, woraufhin Unruhen ausbrachen. Viele Insassen wollten das Lager verlassen, um sich nicht anzustecken. Die Infizierten waren in einem getrennten Teil isoliert untergebracht. Einige Infizierte und ihre Kontaktpersonen, die isoliert werden sollten, sollen sich geweigert haben, das Lager zu verlassen und in Isolation gebracht zu werden.
Hilfsorganisationen warnen seit Monaten vor einer sich anbahnenden Katastrophe auf den griechischen Inseln. Der deutsche Politikberater Gerald Knaus, Vordenker des EU-Türkei-Abkommens, hatte schon im März eine «humanitäre Luftbrücke» vorgeschlagen. Die Migranten müssten dringend aufs Festland gebracht werden, zunächst in Zeltstädten, später in festeren Unterkünften.
Diesen Appell wiederholte Knaus am Mittwoch. Die deutsche Regierung forderte er auf, die Übernahme von 5000 Flüchtlingen vom griechischen Festland anzubieten und andere EU-Staaten zu ähnlicher Hilfe zu animieren. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson kündigte an, den sofortigen Transfer von 400 unbegleiteten Minderjährigen aufs Festland und die Unterbringung dort zu finanzieren.
Im Juni hatte die griechische Regierung angekündigt, bis Ende des Jahres 11’000 Geflüchtete aufs Festland bringen zu wollen. Trotzdem drängt sich die Frage auf, warum weiterhin so viele Migranten auf den Inseln festgehalten werden. Die Antwort ist nicht einfach. Zum Teil liegt es an den noch immer sehr langwierigen griechischen Asylverfahren. Die griechische Regierung will damit aber offenbar auch abschrecken und verhindern, dass wieder mehr Migranten aus der Türkei übersetzen.
Inzwischen ist klar, dass sich eine Verteilquote politisch nicht durchsetzen lässt.
Gleichzeitig protestiert Athen damit gegen die aus seiner Sicht mangelhafte Unterstützung seitens der EU-Partner und will den Druck aufrechterhalten. Gesten der Solidarität, wie etwa der Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Griechenland im März, verpuffen schnell.
Die EU-Staaten schaffen es seit Jahren nicht, sich auf eine neue gemeinsame Asylpolitik zu verständigen. Alle Versuche, die Aussengrenzstaaten Italien und Griechenland zu entlasten, indem die dort ankommenden Geflüchteten in Europa verteilt werden, sind gescheitert. Und eine Aufnahme aus humanitären Gründen scheuen die EU-Regierungen, weil dies eine Lösung präjudizieren und ihre jeweilige Verhandlungsposition schwächen könnte.
Die EU-Kommission hatte nach der Krise 2015 zunächst eine feste Verteilungsquote vorgeschlagen, wogegen sich starker Widerstand in Mittel- und Osteuropa regte, der die Verhandlungen jahrelang überschattete. Inzwischen ist klar, dass sich eine Quote politisch nicht durchsetzen lässt. Zwar wird es wohl eine Art Verteilungsmechanismus geben, doch wird er in letzter Konsequenz freiwillig sein, so dass sich Staaten, die partout keine Asylbewerber aufnehmen wollen, mit der Bereitstellung von Material, Grenzbeamten oder Hilfe bei Rückführungen «freikaufen» können.
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