Frauenrechte in PolenMit krankem Kind schwanger und trotzdem ist die Abtreibung illegal
Immer mehr Polinnen lassen im Ausland Schwangerschaften abbrechen, weil das in ihrer Heimat praktisch verboten ist. Von Frauen, die Hilfe brauchen – und einem Arzt, der hilft.
Ein paar Kilometer weiter, östlich der Oder, da zum Beispiel, wo er heute Morgen eingekauft hat, im polnischen Chojna, sässe er womöglich längst im Gefängnis. Der Abtreiber. Kindsmörder. Geldgieriger. So nennen ihn diejenigen, die das, was er tut, verurteilen und verabscheuen. Das Recht auf Leben beginnt mit der Empfängnis, sagen die Priester, sagt auch das Verfassungsgericht in Polen. Selbst dann, wenn das Kind nie wird atmen können, muss es wachsen dürfen im Bauch der Frau.
Westlich der Oder, in seiner Wohnung im deutschen Schwedt, sitzt Dr. Janusz Rudzinski in schwarzem Hemd, die Haare nach hinten gekämmt, am Kaffeetisch. «Ich habe schon fast alles erlebt, alles gesehen», sagt er, etwas bitter lachend, «nur im Gefängnis war ich noch nicht.»
Ins Bittere hinein klingelt das Telefon. Atemlos die Stimme einer Frau, dumpf, als sässe sie in einem Schrank, sicherheitshalber, um nicht gehört zu werden, irgendwo in Polen. Zwingt sich zur Ruhe. «Doktor? Hallo?» Kein Empfang. «Noch einmal, bitte.» Rudzinski spricht nun ganz langsam, überdeutlich. Man versteht: PCR. Kontrolle. Grenze. Hilfe. Aborcja.
Aborcja heisst Abtreibung
Seit Monaten klingelt das Telefon konstant
Rudzinski, 1942 als Pole in Litauen geboren, Gynäkologe seit mehr als einem halben Jahrhundert, lebt schon lange nicht mehr in seiner Heimat. Aber jeden der zielgerichteten politischen Umbauten, die Polen nun seit Jahren durchmacht, beobachtet er mit Argusaugen. Er ist ein scharfzüngiger Kritiker des polnischen Klerus, Jarosław Kaczyńskis und dessen regierender Partei PiS, Recht und Gerechtigkeit.
Die Folgen des verschärften Abtreibungsgesetzes, das seit Ende Januar in Polen in Kraft ist, bekommt Rudzinski sehr deutlich zu spüren. Er hat zu tun. So viel, dass es kaum zu schaffen ist. «Ich bin Rentner», sagt er, «ich wollte aufhören, natürlich.» Sein Telefon aber klingele seit Monaten dreissig bis vierzig Mal am Tag. Seit mehr als zwanzig Jahren habe er Verbindungen zu Frauenorganisationen in Polen. «Wir brauchen Sie, die Frauen brauchen Sie», heisse es da, «Sie müssen helfen.»
«Die Frauen in Polen werden immer panischer», sagt der Arzt, «das ist ganz eindeutig so.» Später wird er erzählen, was er damit meint, und dass die Frauen, die Paare, die zu ihm kommen, aus allen Schichten stammten, die Bankdirektorin wie die Verkäuferin – auch Priester mit ihren Geliebten.
So gerne wären sie fünf geworden
Doch vorher muss Schneewittchen reden. Gosia soll sie hier heissen. Rabenschwarz ihr Haar, ein Gesicht wie ein Mädchen. Auf die dreissig geht sie zu. Man müsste sich gegenübersitzen, nicht vor einer Kamera, sich mit Ruhe nähern, doch ein Besuch bei ihr in der kleinen Stadt an der Ostseeküste, zwischen Stettin und Danzig gelegen, ist nicht möglich. Sie hat zwei Söhne, und als sie merkte, dass sie wieder schwanger ist, war da erst nichts als Freude, denn sie und ihr Mann wollten ein drittes Kind. Warum nicht? Vielleicht ein Mädchen, endlich ein Mädchen. Beide haben Arbeit, Gosia als Kassiererin in einem Supermarkt und ihr Mann auf dem Bau. So gerne wären sie fünf geworden.
Doch sind sie vier geblieben. Im April reiste das Paar in eine deutsche Klinik, zu Dr. Rudzinski, von dem Gosia sagt, er sei ihre «absolut letzte Hilfe» gewesen. Nie würde sie reden über das, was ihr in ihrer Heimat geschehen ist, aber aus Dank diesem Arzt gegenüber will sie es tun.
Und was ist geschehen?
Es war bei einem Ultraschall Ende der achten, Anfang der neunten Woche, da habe ihr Gynäkologe gesehen, dass das Kind in ihrem Bauch schwere Fehlbildungen habe, erzählt sie. «Von dem Moment an, als ich wusste, dass das Kind krank ist, war es für mich der Albtraum», sagt Gosia.
«Ich konsultierte dann natürlich noch mehrere Ärzte, aber keiner durfte mir helfen.» Ihr Gynäkologe habe natürlich geahnt, dass sie das Kind würde abtreiben wollen, wie auch immer. Er habe nur gesagt: «Wenn du das gemacht hast, dann komm zwei Monate nicht zu mir, und danach wirst du mir sagen, dass du das Kind verloren hast.»
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Angst, abgehört zu werden
Man wird zum Lügen gezwungen?
«Ja», sagt sie, «denn würde man die Wahrheit sagen und zum Beispiel direkt nach einem Abbruch mit Schmerzen oder Komplikationen zum Arzt gehen, dann müsste er das anzeigen.»
Gosia hat das Glück, einen Mann, eine Mutter und eine Schwiegermutter zu haben, die ihr halfen, dazu zwei Freundinnen, die sie von Anfang an begleiteten. Sie recherchierten im Internet, hatten aber Angst, womöglich Betrügern aufzusitzen, fürchteten, abgehört zu werden.
Die Schwiegermutter schliesslich wusste Rat, hatte von einer Ärztin gehört, von der es hiess, sie habe Kontakte ins Ausland. So kam Gosia nach einer Beratung, die in Deutschland vor jedem Abbruch Pflicht ist, zu Rudzinski.
«Auf dem Weg in den OP war ich wahnsinnig gestresst und hatte Angst», sagt Gosia, «da hat er plötzlich meine Hand genommen, hat alle Sensibilität gezeigt, das war ein magischer Moment. Ich war dann unglaublich erleichtert, als es vorbei war.»
Überzeugungstäter oder Geldgieriger?
550 Euro – ein gängiger Preis für einen Abbruch in Deutschland – haben sie dem Spital bezahlt. Rudzinski bekommt von der Klinik ein monatliches Honorar. Auf den einzelnen Eingriff umgerechnet sind es etwa 90 Euro.
«Ich meine, Frauen sollen das Recht haben, selbst zu entscheiden.»
Geldgier sei sein Antrieb, sagen Rudzinskis Gegner. «Ein Überzeugungstäter» sei dieser Mann, sagt ein Mensch, der ihn schon länger kennt. «Er kämpft doch mit uns», sagt Gosia vor ihrem Bildschirm, «und wenn nicht er, wer würde das tun?»
Natürlich gibt es Netzwerke in Polen und in Deutschland, die sich durch Spenden finanzieren und Schwangere an Ärzte und Ärztinnen vermitteln, oft auch, ohne dass Geld für den Abbruch bezahlt werden muss. Gosia sagt, ihr Mann verdiene gut. «Das Geld war richtig ausgegeben», keinen Cent bereue sie. «Ich meine, Frauen sollen das Recht haben, selbst zu entscheiden», sagt Gosia, und dann spricht sie über die Zeit des Sozialismus, von der ihre Mutter erzählt hat, und die Grossmutter.
Anfragen für Sterilisation – mit 22
Der Sozialismus. Janusz Rudzinski hat ihn in Polen erlebt. Dass eine Frau zehn oder fünfzehn Abtreibungen im Leben gehabt habe, sei damals nichts Ungewöhnliches gewesen. Das solle man nicht bewerten. Es war der Alltag. «Und die Frauen hatten keine Bedenken damals, und jetzt?», fragt er. «Da verurteilen die gleichen Frauen ihre Töchter oder Enkelinnen.»
Haben Sie eine Erklärung, Doktor?
«Wissen Sie, diese Frauen, wenn sie älter werden und der Tod klopft an die Tür, dann spenden sie ihr letztes Geld der Kirche, denn man will Gott gefallen, ihn korrumpieren.» Rudzinski lächelt. «Aber ich glaube nicht, dass das gelingt, dass Gott sich korrumpieren lässt.»
Sorge macht ihm auch, dass ihn ganz junge Polinnen anrufen, weil er sie sterilisieren soll, mit 22, 24, und haben noch kein Kind geboren. «Stellen Sie sich vor, massenhafte Anfragen wegen Sterilisation!» Nur, was sagt man einer 22-Jährigen, die sterilisiert werden will? «Warten Sie mit so einer grossen Entscheidung», sagt man, und dass er das nicht tun könne. «In ein, zwei Jahren verlieben Sie sich, ändern ihre Meinung und sind unglücklich.»
Aber es beunruhigt ihn, dass eine ganze Generation in Angst schwebt, genauso wie die Tatsache, dass Frauen nun bei «minimalem Verdacht», das Kind könnte krank sein, die Schwangerschaft abbrechen. Sie warteten nicht, keinen Tag. Sie fürchteten, Untersuchungsergebnisse könnten gefälscht werden, um sie vom Abbruch abzuhalten. Diese Frauen kämen sofort, «dabei ist vielleicht gar nichts mit dem Kind». Seit der Gesetzesverschärfung werde diese «Panik» immer stärker, sagt der Arzt. Und dann die Angst, entdeckt zu werden. Dass es bloss niemand erfahre.
Der Ordner mit den Drohbriefen
Aus dem Arbeitszimmer holt er jetzt einen Ordner, in dem er all die Drohbriefe abgeheftet hat, die Mails, die Strafanzeigen. «Bestialischer Mord» sei es, was er da tue. «Können Sie gut schlafen? Nach Kindermorden?» Er hebt alles auf, zur Sicherheit, auch wenn er östlich der Oder lebt. «Die PiS ist rachsüchtig», sagt der Doktor, «sie sind konsequent in ihrer Rache. Sie können mich verhaften. Sie finden einen Grund.»
Ja, warum tun Sie das dann?
«Ich bin Arzt», sagt Janusz Rudzinski und klappt den Ordner zu. «Ich helfe.»
Gosia hat er geholfen. Ein gesundes Kind, sagt sie, würde sie nie abtreiben. «Es war schmerzvoll, denn es war eine Tochter.» Bekannten sagt sie, das Kind habe sie verloren. Sie wird einige Monate ihren Arzt nicht aufsuchen und dann auch ihm mitteilen, was er hören will. Die Lüge.
Kein Name. Kein Ort. Kein Alter. Nichts soll in der Zeitung stehen. Zu gefährlich. Gosia überlegt, was sie erlauben will, schaut raus in den Nachthimmel und sagt: «Schreiben Sie, ich lebe am Meer.»
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