Rad-Sensation Anna KiesenhoferMit dem Olympiasieg dieser ETH-Mathematikerin hat niemand gerechnet
Die Wahlschweizerin schreibt im Strassenrennen eine aussergewöhnliche Geschichte. Ihr Sieg kommt so überraschend, dass die Zweite glaubt, sie habe gewonnen.
Glaubt sie wirklich, ihr verwegener Plan könnte aufgehen? Der Fluchtversuch bei Kilometer null, unmittelbar nach der Freigabe des Rennens, könnte sich lohnen?
Knapp vier Stunden später liegt Anna Kiesenhofer auf dem Fuji International Speedway neben ihrem Rennvelo am Boden, völlig ausgepumpt. Der Brustkorb hebt und senkt sich zügig, sie atmet schnell und schwer, die Laute, die sich von sich gibt, sind irgendwas zwischen Keuchen und Schluchzen. Noch sieht man es ihr zwar nicht an, die Kraft zur grossen Geste fehlt, aber: Sie, die Amateurin, ist Olympiasiegerin im Strassenrennen.
«Meine Beine waren völlig leer. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so verausgabt, ich konnte kaum noch treten, es war keine Energie mehr da», wird sie später im ORF sagen.
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Es ist nichts anderes als ein Husarenritt, der Österreich das erste olympische Rad-Gold seit 125 Jahren beschert. 1896, bei den ersten Spielen der Neuzeit in Athen, triumphierte ein gewisser Adolf Schmal im 12-Stunden-Rennen.
Auch an den Coup von Kiesenhofer wird man sich in Österreich lange erinnern. «Es ist noch schwer zu begreifen. Wenn man bei den Interviews wiederholt, dass man Olympiasiegerin ist, dann wird es ein bisschen mehr wahr», sagt die 30-Jährige. «Ich glaube, das ist die schwerste Medaille, die ich jemals um meinen Hals hatte.»
Van Vleuten jubelt über Gold
Zu Beginn sind die Ausreisserinnen zu fünft, später zu dritt, gut 40 Kilometer vor dem Ziel lässt Kiesenhofer ihre letzten beiden Fluchtgefährtinnen stehen, die Polin Anna Plichta und Omer Shapira aus Israel. Die Topfahrerinnen um die favorisierten Niederländerinnen holen diese beiden wenige Kilometer vor dem Ziel ein – und glauben, sie fahren nun um Gold, weil sie keine genauen Informationen erhalten und der bei Radrennen übliche Funk bei Olympia untersagt ist.
Als Annemiek van Vleuten, die vor fünf Jahren in Rio auf dem Weg zu Gold so fürchterlich stürzte, das Feld kurz vor Schluss hinter sich lässt und nach 137 Kilometern die Ziellinie überquert, jubelt sie über den vermeintlichen Olympiasieg. Als sie dann die Gewissheit ereilt, dass ihre Medaille eine andere Farbe hat, sagt sie zu einem Betreuer: «Oh, ich habe mich völlig geirrt. Ich habe es überhaupt nicht gemerkt.» Später erklärt die Weltmeisterin von 2019: «Ich dachte, ich hätte Gold. Ich kam mir wirklich blöd vor.»
Es ist ja auch nicht zu erwarten gewesen, dass eine Fahrerin triumphiert, die Van Vleuten vor dem Rennen nicht einmal gekannt hat. Wobei das wohl auf viele im Feld zutrifft.
2017 versucht sich die ehemalige Triathletin Kiesenhofer als Profi im belgischen Team Lotto Soudal Ladies, muss jedoch nach ein paar Monaten einsehen, dass ihr das komplett auf den Sport ausgerichtete Leben nicht behagt. «Ich habe gemerkt, dass der Profisport für mich ein zu grosser körperlicher und psychischer Stress ist und ich lieber nur Hobbysport mache», sagt sie. Stattdessen nimmt die promovierte Mathematikerin einen Job an der ETH Lausanne an, wo sie noch heute arbeitet.
Es folgt eine längere sportliche Schaffenspause, ab 2019 bestreitet Kiesenhofer wieder vereinzelt Wettkämpfe und gewinnt im selben Jahr das Strassenrennen an den nationalen Meisterschaften. Weil ihr aber die Erfahrung fehlt und sie sich im Peloton auch deshalb nicht richtig wohlfühlt, bevorzugt die 30-Jährige das Zeitfahren. In dieser Disziplin ist sie zuletzt dreimal in Folge österreichische Meisterin geworden. Vor ihrem Olympia-Einsatz sagt sie: «Wenn ich tauschen könnte, wäre mir das Einzelzeitfahren lieber.»
Akribisch mit der Hitze beschäftigt
Nach diesem bemerkenswerten Sonntag lässt sich festhalten: Kiesenhofer hat ihre vielseitigen Fähigkeiten optimal genutzt. Anfang Monat postete sie auf Twitter eine Grafik, die zeigt, wie minutiös sie sich im Vorfeld der Spiele mit der Hitzeakklimatisation auseinandergesetzt hat. Was ihr insofern zugutekam, als sich die Temperaturen während des Rennens jenseits der 30 Grad Celsius bewegten, bei hoher Luftfeuchtigkeit.
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Ihre Qualitäten als Rollerin konnte sie schliesslich ausspielen, weil sie das Rennen mit ihrem frühen Angriff entsprechend gestaltet hatte. Aber natürlich weiss Kiesenhofer, dass sie auch Glück gehabt hat. «Ich hatte den Mut zu attackieren und war am Ende die Stärkste unter den Ausreisserinnen. Das Überraschungsmoment war sicher auf meiner Seite, einer bekannteren Fahrerin hätten sie nicht so viel Vorsprung gegeben.»
Sie hatte einen verwegenen Plan. Sie hatte Mut. Sie hatte gute Beine. Jetzt ist Anna Kiesenhofer Olympiasiegerin.
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