Whistleblower aus der katholischen Kirche«Vor meiner Tür lag ein aus Karton gebastelter Sarg voller schwarzer Kreuze»
Nicolas Betticher hat Morddrohungen erhalten, weil er die Untersuchungen gegen drei Bischöfe ins Rollen gebracht hat. Nun fordert er den Bundesrat auf, beim Papst Sonderregeln für die Schweiz zu erwirken.

Vor sieben Wochen veröffentlichten Forscherinnen an der Uni Zürich eine Pilotstudie zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche. Man habe Hinweise auf über 1000 Opfer gefunden. Das sei aber nur die Spitze des Eisberges. Zudem beauftragte der Papst den Churer Bischof Bonnemain mit einer Untersuchung gegen drei Bischöfe und einen Abt, weil der Berner Pfarrer Nicolas Betticher den Forschenden Vertuschungsvorwürfe beschrieb und dies auch an den Vatikan meldete.
Wie haben die Leute auf Ihren Brief an den Vatikan reagiert, Herr Betticher?
Ich habe in den letzten Wochen nicht gut geschlafen. Es kamen Morddrohungen, anonyme Briefe, in denen ich verflucht werde. So hiess es: «Du dreckige Ratte, du wirst verrecken!» Oder: «Ich dachte, Sie seien tot und begraben und brennen langsam in der Hölle.» Die Kantonspolizei rief an und sagte, sie sei in Sorge.
Gab es auch Angriffe vor Ort?
Ich habe vor meiner Tür einen aus Karton gebastelten Sarg gefunden, voller schwarzer Kreuze. Und an die Tür unserer Pfarrkirche Bruder Klaus hier in Bern hat jemand satanistische Zeichen gemalt. Auf meiner Facebook-Seite gab es eine Schlammschlacht. Man hat mir vorgeworfen, ich würde die Kirche beschmutzen.
Vorwürfe kamen auch in den Medien.
Ja, es hiess, ich hätte 2001 selbst bei einem Missbrauchsfall viel zu spät reagiert. Das stimmt nicht. Ich habe gegen aussen von dem Fall tatsächlich nichts gesagt, aber intern habe ich mich beschwert. Ich wurde jedoch überhört. Es war damals einfach ein Nichtwissen, wie man in einer solchen Situation damit umgeht. Ich habe mich jetzt geäussert, weil ich im Rahmen der Studie der Universität Zürich befragt wurde und weil ich aufgrund des kanonischen Rechts meine Aussagen auch an den Heiligen Stuhl weiterleiten musste. Dass man uns nun heute, 22 Jahre später, sagt, wir seien nicht glaubwürdig, weil wir damals Fehler machten, das kann ich nicht akzeptieren.
Allein im Kanton Zürich gab es in den zwei Wochen nach der Veröffentlichung der Studie 3200 Kirchenaustritte. In der Stadt Basel waren es im September und im Oktober fast 340, dreimal mehr als normalerweise. Wie sieht das in Ihrer Gemeinde aus?
Wir hatten hier in meiner Pfarrei allein im letzten Monat 15 Austritte, viermal mehr als sonst. Es gehen ganze Familien. In ihren Briefen verweisen sie alle auf den Missbrauchsskandal. Es gab schon vorher eine ganze Reihe von Gründen, unzufrieden zu sein – zum Beispiel die Frauenfrage, die Gerechtigkeitsfrage, das Geld, die absolutistische Ordnung der Kirche oder ihr Moralanspruch. Doch viele sagen jetzt, das Ergebnis der Studie sei der letzte Tropfen gewesen.
Gab es auch positive Reaktionen?
Ich erhielt auch sehr viel Unterstützung. Nie habe ich so viele Mails in einer Woche erhalten. Jemand schickte einen Blumenstrauss mit der Bitte: Machen Sie weiter so. Kämpfen Sie für die Gerechtigkeit den Opfern gegenüber. Und am 13. September, als der Skandal in der Schweiz überall diskutiert wurde, war ein Mitbruder von mir in Rom an einer Audienz mit dem Papst. Er hat dem Heiligen Vater den Medienbericht über mich gezeigt und gesagt: «Sehen Sie, Heiliger Vater, das ist einer meiner Mitbrüder in der Schweiz, der das angeprangert hat und der jetzt kritisiert wird.» Der Papst soll gesagt haben: «Sagen Sie ihm, er soll weiterkämpfen, auch wenn er Bischöfe weiterhin kritisieren muss. Ich bete für ihn.»
Das muss Sie ermutigen weiterzumachen, trotz Nestbeschmutzer-Vorwurf.
Es zeigt vor allem, wie sogar der Papst in einer Zwickmühle steckt, denn eine volle Unterstützung ist das nicht. Er will für mich beten. Das ist ganz lieb, und ich danke dem Papst. Aber ebenso wichtig wäre es, wenn er uns ein Partikularrecht einräumen würde, damit wir selbst ein Gericht einsetzen können, um diesen entsetzlichen Missbrauchsskandal endlich glaubhaft aufzuarbeiten.
Wie müsste das aussehen?
Mit einem Partikularrecht könnte man zum Beispiel die Bischöfe in der Schweiz von der Gerichtsbarkeit in Sachen sexueller Missbrauch entlasten. Ein kompetentes Gericht könnte agieren und Prozesse und Verfahren durchführen.
«Auch Bischöfe sollten in der Schweiz zur Rechenschaft gezogen werden können.»
Das ist seit der Weltsynode in Rom, die letzten Sonntag zu Ende ging, kein Tabu mehr. Man hat dort diskutiert, ob die richterliche Aufgabe weg vom Bischof hin zu einem anderen Gremium gehen sollte. Welche Leute müssten in einer solchen Instanz sitzen?
In diesem Gericht könnte man Experten beschäftigen, Männer und Frauen, also zum Beispiel Strafrechtlerinnen, ehemalige Staatsanwälte, Anwältinnen, Leute, die etwas von der Sache verstehen. Priester und Bischöfe kennen sich mit Strafermittlungen nicht aus. Die kirchlichen Gerichte kümmern sich um Ehenichtigkeitsverfahren, nicht aber um Missbrauchsdelikte. Wichtig ist auch, dass die Mitglieder der unabhängigen Untersuchungsgruppe nicht von den Bischöfen ernannt werden, sondern direkt vom Heiligen Stuhl in Rom. Das gäbe auch dem Gericht eine gewisse Distanz zur hiesigen Hierarchie. Jedes Urteil ist ja auch Prävention.
Das würde die Bischöfe entmachten.
Die Bischöfe würden nur die Gerichtsbarkeit in Sachen Missbrauch verlieren. Der Papst könnte dies der Schweiz für 15 Jahre gewähren, sozusagen als Laboratorium für die Weltkirche. Wenn er danach findet, es hat nicht funktioniert, kann er es wieder zurücknehmen. Aber es könnte, wenn es gut gelingt, eben auch ein Vorbild für andere Länder werden.
Heute gelangen die Fälle von Missbrauch an Minderjährigen an das Glaubens-Dikasterium in Rom.
Es ist schlicht unmöglich, dass eine kleine Gruppe von Männern im Vatikan alle Missbrauchsfälle der Welt managt, wenn wir allein in der Schweiz schon Tausende haben. In der Praxis schaut sich das Dikasterium einen Fall an und entscheidet, ob es ihn selbst behandelt oder an den Ortsbischof zurückgibt, verbunden mit der Auflage, er solle das Verfahren leiten. So werden die Bischöfe überlastet, und sie müssen über ihre eigenen Priester urteilen. Das ist weder für die Opfer noch für die Täter, noch für die Kirche gut.
Wichtig ist doch aber, dass Missbrauchsfälle an die staatliche Justiz gemeldet werden.
Das ist unbedingt notwendig und muss auch parallel laufen. Dabei gibt es halt oft das Problem, dass die Übergriffe verjährt sind. Die Verjährung kann aber kirchenrechtlich aufgehoben werden. Und dies ist ja eine Möglichkeit, einen Fall trotzdem zu untersuchen und zu einem Urteil zu gelangen. Es soll also sicherstellen, dass kein fehlbarer Kleriker einer Bestrafung entgeht.

Würde das bedeuten, dass ein reines Laiengremium die Priester nach kirchlichem Recht beurteilen soll?
Ja, das ist so. Laien sollten befugt werden, über Mitarbeiter in der Kirche, auch über Bischöfe, urteilen zu können. Das ist neu, wäre sicher revolutionär, aber dringend notwendig.
Die Bischofskonferenz spricht davon, ein kirchliches Straf- und Disziplinargericht einzurichten nach dem Vorbild von Frankreich.
Zuerst bin ich froh und dankbar, dass die Bischofskonferenz ein Gesuch in Rom einreichen will, um ein solches Gericht ins Leben zu rufen. Man spricht im Communiqué der Bischofskonferenz vom französischen Modell. Dort gibt es seit einem Jahr ein solches Gericht. Doch dieses kann nicht über Missbrauchsfälle von minderjährigen Opfern richten und auch nicht über Bischöfe. Das wäre einfach keine glaubwürdige Antwort auf die Missbrauchsfälle, denn gemäss der Studie der Universität Zürich war die Mehrheit der Opfer minderjährig. Und auch Bischöfe sollten in der Schweiz zur Rechenschaft gezogen werden können, falls dies ansteht.
Wie realistisch ist es, dass so etwas kommt?
Die Weltsynode fordert jetzt, dass Strukturen für die regelmässige Überprüfung der Arbeit des Bischofs geschaffen werden, insbesondere auch für «den Schutz vor jeder Art von Missbrauch». Ein Gericht entspricht und erweitert diesen Beschluss. Wir haben also jetzt eine Chance. Nun müssen nicht nur die Bischöfe, sondern auch die staatskirchenrechtlichen Gremien in Rom vorsprechen. Und auch der Bundesrat muss direkt zum Papst – nur dann kriegen wir meines Erachtens eine Chance auf ein unabhängiges Gericht.
Aber die Kirchen sind Aufgabe der Kantone.
Ja, aber in Artikel 72 der Bundesverfassung steht, dass auch der Bund einschreiten muss, wenn es um den Frieden zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften geht. Der Missbrauchsskandal betrifft die ganze Schweiz. Also kann auch die Botschafterin der Schweiz im Vatikan in dieser Sache aktiv werden und im Namen des Bundesrats vorstellig werden.
«Bundesrat Cotti ging auch zu Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano nach Rom und intervenierte.»
Was soll die Botschafterin fordern?
Wenn sie zusammen mit Bischof Felix Gmür und der Präsidentin der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz beim Papst vorstellig wird und sagt: «Heiliger Vater, wir sind ein kleines Ländchen mit nur sechs Bistümern. Wir könnten so ein Gericht bei uns ausprobieren. Geben Sie uns ein Partikularrecht dafür.» Ich glaube, so hätten wir eine echte Chance.
Der Papst ist Oberhaupt einer Weltkirche. Warum sollte er auf den Schweizer Bundesrat hören?
Ich habe selbst erlebt, dass es so funktioniert. Ich war 1998 Pressesprecher der Bischofskonferenz. Zu der Zeit gab es massive Kritik an Bischof Haas in Chur. Bundesrat Flavio Cotti war damals Leiter des Aussendepartements. Er ging zu Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano nach Rom und intervenierte. Nach diesem Gespräch musste Bischof Haas das Bistum Chur verlassen. Der Missbrauchsskandal erfasst nun das ganze Land, nicht nur das Bistum Chur wie damals. Die Leute treten in Scharen aus der katholischen Kirche aus. Es brodelt.
In drei Jahren wird die Uni Zürich einen umfassenderen Bericht präsentieren, der weit über die Pilotstudie hinausgeht. Was ist, wenn es bis dahin immer noch kein unabhängiges Gericht gibt?
Der jetzige Bericht zeigt nur die Spitze des Eisbergs, hat es geheissen. Es wird dann also vielleicht 15’000 Opfer geben. Jetzt ist der Moment gekommen, dass wir um das Recht einer unabhängigen Gerichtsbarkeit kämpfen müssen, mit allen Mitteln. Denn es geht um die Opfer, vor allem um die Vorbeugung von neuen Opfern. Letztlich geht es auch um die Wahrheit und die Glaubwürdigkeit unserer Kirche.
Fehler gefunden?Jetzt melden.