Analyse zur WohnungsnotMehr Wohnungen reichen nicht, es müssen die richtigen sein
Neugasse, Witikon, Kibag-Areal: Immer wieder heisst es, dass links-grüne Politik in der Stadt Wohnungen verhindert. Man kann das aber auch ganz anders deuten.
Selten kommt es vor, dass ein Entscheid des Stadtzürcher Parlaments zum nationalen Wahlkampfthema aufsteigt.
An einer «Tages-Anzeiger»-Podiumsdiskussion vom letzten Sonntag kritisierte Gerhard Pfister, Präsident der Mitte, die links-grüne Mehrheit im Gemeinderat. SP, Grüne und AL wiesen vor gut zwei Wochen einen Vorstoss zurück, mit dem die FDP eine generelle Erhöhung der Stadt um ein Stockwerk bewirken wollte.
Mit ihrem Nein bremse die Linke die nötige Verdichtung, sagte Pfister. Die Botschaft kam an. Das Publikum im Zürcher Kaufleuten klatschte.
Pfister wiederholte, was Bürgerliche in der Stadt Zürich schon länger sagen: Die Linke verhindere Wohnungen, sie verantworte daher die Stadtzürcher Wohnungsnot. Angebliche Belege dafür haben sich gerade einige angesammelt.
Beim Neugasse-Areal im Kreis 5 bekräftigten die SBB Mitte Juni, was die Bürgerlichen vor der letztjährigen Volksabstimmung prophezeit und die Linken ausgeschlossen hatten: Die Werkstatt bleibt eine Werkstatt, mindestens für die nächsten 20 Jahre. Die geplanten Wohnungen für 900 Menschen wird es sehr lange nicht geben.
In Witikon drohen SP, Grüne und AL derzeit, ein Neubauprojekt mit 370 Wohnungen zu blockieren. Ihre Forderung: Die Bauherrin Swisscanto, ein Fonds der Zürcher Kantonalbank, müsse einen Anteil an günstigen Wohnungen bereitstellen. Ansonsten könnte die links-grüne Mehrheit eine Umzonung verweigern, die es für die Zufahrt braucht.
Dass SP, Grüne und AL solche Drohungen ernst meinen, zeigten sie vor rund zwei Wochen. Im Gemeinderat verunmöglichten sie den Ersatzneubau eines Geschäftshauses in der Nähe des Hauptbahnhofs, inklusive zehn Wohnungen. Ein Abbruch des bisherigen Gebäudes sei unökologisch, günstige Wohnungen fehlten, sagten links-grüne Rednerinnen. Der Gemeinderat konnte bei diesem Projekt mitreden, weil die Eigentümer für den Neubau eine Aufzonung um gut drei Meter benötigten.
In derselben Parlamentssitzung stoppten dieselben Parteien die Aufstockungsoffensive der FDP. SP, Grüne und AL befürchteten, dass eine generelle Aufzonung ohne Einschränkungen eine «Abbruchorgie» auslösen würde. Die Immobilienbranche würde einfach noch mehr teure Wohnungen erstellen.
Und nun, am letzten Montag, folgte die Ankündigung eines Wohnverbots auf dem Kibag-Areal, das direkt am See in Wollishofen liegt. Der Stadtrat, der bislang als investorenfreundlicher galt als der Gemeinderat, klemmt damit den vorgeschlagenen Bau von 70 Wohnungen ab.
Die fünf Geschichten unterscheiden sich stark. Aber alle scheinen die These von der linken Wohnungsverhinderung zu stützen. Doch sie lassen sich auch umgekehrt deuten: als Bestätigung dafür, dass sich Investorinnen der politischen Realität in Zürich verweigern. Und dadurch neue Wohnungen verspielen.
Nach der 1990er-Jahre-Krise kam Zürich den Immobilienfirmen lange entgegen. Doch heute befindet sich die Stadt an einem völlig anderen Punkt als vor 20 Jahren. Zürich geht es fantastisch. Nicht mehr das Geld fehlt, sondern der günstige Wohnraum.
Das Schaffen von zusätzlichen gemeinnützigen Wohnungen gehört zu den wichtigsten Wahlversprechen von SP, Grünen und AL. Zugleich gibt es keine Forderung, welche die Stadtzürcher Stimmbevölkerung deutlicher und häufiger bestätigt hat.
«Der Anspruch auf mehr bezahlbare Wohnungen ist eine Stadtzürcher Realität.»
Die links-grünen Parteien verfügen im Gemeinderat derzeit über eine knappe Mehrheit. Die Hoffnung, Wohnprojekte ohne gemeinnützigen Anteil durch das Stadtparlament zu bringen, wirkt daher ziemlich weltfremd. Der Anspruch auf mehr zahlbare Wohnungen ist eine Stadtzürcher Realität. Ihn gilt es zu anerkennen – so wie viele andere Vorgaben, die man beim Bauen einhalten muss.
Wie das funktionieren kann, sieht man an der Überbauung Obere Allmend in der Manegg. Für dieses Projekt mit 268 Wohnungen tat sich die börsenkotierte Immobiliengesellschaft Mobimo von sich aus mit der gemeinnützigen Wohnbauträgerin Logis Suisse zusammen. Mit einem Anteil von 44 Prozent gemeinnützigen Wohnungen übertrifft die Siedlung sogar deutlich das Drittelsziel. Die Neubauten wurden in diesem Frühling bezogen. Widerstand gab es keinen. Ein Mobimo-Sprecher sagt auf Anfrage: Die Erfahrungen seien so positiv, dass Mobimo und Logis Suisse bereits ein weiteres gemeinsames Projekt planten (im Kanton Bern allerdings).
Rückwärts machen Investorinnen bei solchen Kooperationen nicht. Sie müssen aber auf einen Teil des Profits verzichten. Dazu sind in Zürich offenbar viele nach wie vor nicht bereit.
Lieber wird über die links-grüne «Investitionsfeindlichkeit» geklagt. Dabei können Immobiliengesellschaften in Zürich auch daher so hohe Mieten verlangen, weil die links-grüne Politik Zürich zu einer extrem beliebten Stadt gemacht hat.
Schwer auszuhalten
Vielleicht gehen SP, Grüne und AL derzeit manchmal zu weit, etwa beim erwähnten Ersatzneubau in der Nähe des Hauptbahnhofs, den sie nach sieben Jahre aufwendiger Planung einfach abschossen. Es ist auch schwer auszuhalten, dass auf dem Neugasse-Areal, mitten in der Stadt, trotz Wohnungsnot weiterhin Züge geflickt werden.
Aber vielleicht braucht es solche harten Entscheide, damit die neue Linie der Stadt überall durchdringt: Verdichtung ist dringend erwünscht, allerdings nur, wenn sie sozialverträglich und ökologisch daherkommt.
Das wäre sogar eine Forderung für den nationalen Wahlkampf.
Korrigendum: In der ersten Version dieses Artikel hiess es, dass der Gemeinderat beim Ersatzneubau in der Nähe des Hauptbahnhofs lediglich die Abtretung von einem Quadratmeter Land bewilligen musste. Das trifft nicht zu. Es ging um eine Änderung der Bau- und Zonenordnung.
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