Schottlands ZukunftMehrheit der Schotten will die Unabhängigkeit
Regierungschefin Nicola Sturgeon plant ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Boris Johnson kann das Manöver aus Edinburgh nicht als unrealistische Träumerei abtun.
In Schottland wird zwar erst im kommenden Frühjahr gewählt, aber Nicola Sturgeon ist schon jetzt im Wahlkampfmodus. Die schottische Ministerpräsidentin kündigte am Dienstag an, noch vor der Parlamentswahl im Mai ein neues Unabhängigkeitsreferendum auf den Weg zu bringen. Sie werde bis dahin einen Gesetzentwurf vorlegen, in dem die Bedingungen, der zeitliche Ablauf und die genaue Fragestellung für eine Volksabstimmung über einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich formuliert würden. Schottlands First Minister erhöhte damit den Druck auf den britischen Premierminister Boris Johnson, der ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum strikt ablehnt.
Freundin der EU
Sturgeons Vorstoss ist einerseits Symbolpolitik, weil die Frage, ob Schottland überhaupt eine solche Volksabstimmung abhalten darf, vom britischen Parlament in London entschieden werden müsste – und dort verfügt Johnsons Konservative Partei über eine komfortable Mehrheit. Andererseits kann der Premierminister das Manöver aus Edinburgh auch nicht als unrealistische Träumerei abtun. Denn je höher der mutmassliche Wahlsieg von Sturgeons Scottish National Party (SNP) ausfallen sollte, desto stärker könnte sie Johnson unter Druck setzen, ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum zu gestatten.
2014 hatten die Schotten mit 55 zu 45 Prozent für einen Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Doch mittlerweile ist Umfragen zufolge eine Mehrheit für den Austritt. Als Hauptgrund für den Abspaltungswunsch gilt der Brexit. Beim Referendum über den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs hatten die Schotten mehrheitlich dagegen gestimmt. Sturgeon hat sich seitdem als scharfe Kritikerin von Johnsons Brexit-Kurs positioniert und weiss damit die Mehrheit der Schotten auf ihrer Seite. Sie lässt jedenfalls keine Gelegenheit aus, Johnson als zaudernden und überforderten Premier darzustellen. Sturgeon selbst inszeniert sich derweil als Freundin der EU. Noch im Februar war sie in Brüssel und erklärte, dass sie sich schon jetzt auf den Tag freue, wenn ein unabhängiges Schottland EU-Mitglied werde.
Johnson steht als Getriebener da
Seit Ausbruch der Corona-Krise hat Sturgeons Popularität nicht gross gelitten – ganz im Gegensatz zu Johnsons. Das liegt auch daran, dass die Schottin den Premierminister geschickt vor sich hertreibt. Immer wieder fasste sie Entscheidungen, die Johnson nur noch nachahmen konnte. Zuletzt ging es etwa um die Frage, ob ältere Schülerinnen und Schüler eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen müssen. Nachdem Sturgeon angekündigt hatte, dass es in Schottland eine solche Pflicht geben werde, wenn auch nicht in den Klassenzimmern, erklärte die Regierung in London, dass es in England nicht dazu kommen werde. Nur einen Tag später folgte die Kehrtwende: England tat es Schottland gleich.
Dem Vernehmen nach wollte Johnson nicht als derjenige dastehen, der sich weniger um die Sicherheit in den Schulen kümmert als seine schottische Kontrahentin. Der Premierminister sah jedenfalls alles andere als gut aus: Einmal mehr stand er in der Corona-Krise als Getriebener da – als einer, der sich von Sturgeon den Kurs diktieren lässt.
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