Mercedes-Benz Vision EQXXMehr Reichweite mit weniger Strom
Mercedes-Benz will das effizienteste Auto der Welt bauen. Das elektrische Forschungsfahrzeug Vision EQXX zeigt auf, wie man mit einer kleinen und leichten Batterie über 1000 Kilometer weit stromern kann.
Rund 130 Kilometer Reichweite versprachen die ersten serienmässigen Stromer der frühen 2010er-Jahre – zu wenig, um der E-Mobilität damals zum Durchbruch zu verhelfen. Und dies, obwohl Statistiken immer und immer wieder belegten, dass der europäische Durchschnittsfahrer pro Tag keine 50 Kilometer zurücklegt. Was hat sich geändert, dass mittlerweile fast jeder fünfte Neuwagen in der Schweiz rein elektrisch fährt? Nicht die mittlere Fahrtlänge (in Homeoffice begünstigenden Pandemiezeiten wurde sie eher noch kürzer), nicht die Reichweitenängste (zumal das öffentliche Ladenetz noch immer Löcher aufweist), ja in ihren Grundzügen noch nicht mal die Batterietechnologie. Vielmehr hat sich in der Industrie als gängige Praxis durchgesetzt, tendenziell grössere Modelle mit möglichst grossen Akkus für Reichweiten ab 400 Kilometer vollzupacken – ungeachtet der nachteiligen Effekte auf Gewicht, Effizienz und Umweltverträglichkeit.
Geht es nach Mercedes-Benz, ist damit bald Schluss. Schon das 2021 lancierte E-Flaggschiff EQS bringt es dank optimierter Technik und Aerodynamik auf über 700 Kilometer. Mit dem aktuell auf der Consumer Electronics Show CES in Las Vegas gezeigten Forschungsfahrzeug Vision EQXX gehen die Stuttgarter aber noch einen Schritt weiter und sprechen vom «effizientesten Auto der Welt». Seine Batterie soll so kompakt gebaut sein, dass sie theoretisch in einen Kleinwagen passt, und der Aktionsradius des insgesamt nur 1750 Kilo schweren, 150 kW leistenden Stromers über 1000 Kilometer betragen, was einem Verbrauchswert von unter 10 kWh pro 100 Kilometer entspricht. Zur Illustration: Dieselbe Strommenge reicht einem Wäschetrockner für drei Stunden, einem Bügeleisen für fünf Stunden und der konventionellen Flutlichtanlage eines grossen Sportstadions für drei Minuten Betrieb.
Windschlüpfiger als ein Football
Dahinter steckt ein umfassendes Technologieprogramm, das Effizienz zur «neuen Währung» erklärt und von Mercedes mit hochtrabenden Attributen wie «revolutionär», «radikal» und «neuer Massstab» bedacht ist – vielleicht sogar zu Recht. Der 900-Volt-Antriebsstrang mit einem «Benchmark»-Wirkungsgrad von 95 Prozent und das neu konzipierte Batteriepaket, das mit gut 100 kWh fast so viel Energie nutzbar macht wie der Akku des EQS, dafür nur halb so gross und rund 30 Prozent leichter ausfällt, sind nur der Anfang. Die Liste aller Effizienzmassnahmen – vom ausgeklügelten Wärmemanagement, Solardach zur Stromversorgung der Nebenaggregate und rollwiderstandsarmen Reifen über eine Leichtbaustruktur mit vereinzelten Elementen aus dem 3-D-Drucker bis hin zum energieeffizienten Multimediadisplay mit einem System, das auch bei einer effizienten Fahrweise unterstützt – ist so lang und erklärungsbedürftig, dass hier nur ein Teil wiedergegeben werden kann.
Erwähnenswert, da auch optisch interessant, ist auf alle Fälle die elegant fliessende Tropfenform der Karosserie. Da konventionelle E-Autos laut Mercedes nahezu zwei Drittel ihrer Batteriekapazität zur Überwindung des Luftwiderstands aufwenden, haben die Designer auf eine aerodynamisch besonders günstige Grundform Wert gelegt und die Stirnfläche der markanten Leuchtenband-Front bewusst kleiner gestaltet als bei einem Smart. In Kombination mit einer aerodynamischen Kühlplatte im Unterboden und der Integration von passiven und aktiven Aero-Elementen wie einem versenkbaren Heckdiffusor erzielt der EQXX einen Luftwiderstandsbeiwert von 0,17, womit er die Windschlüpfrigkeit eines American Football übertrifft. Erzielt wurde dieser Wert durch digitale Entwicklungswerkzeuge – auch sie ein Beitrag zur Effizienz, indem sie die Dauer der Formfindung halbierten, physische Modelle hinfällig machten, Zeit im Windkanal sparten und 300'000 Kilometer an Testfahrten rein virtuell absolvieren liessen.
Überhaupt der Entwicklungsprozess. Zum einen verfolgten die Stuttgarter einen radikal softwaregesteuerten Ansatz – unter anderem mit Tools aus der Gaming- und Animationsfilmindustrie –, um ihre hochgesteckten Effizienzziele innert kürzester Zeit zu erreichen und in nur 18 Monaten aus einer ersten Skizze ein fahrbereites Forschungsfahrzeug herzustellen. Zum anderen arbeiteten die Mercedes-Ingenieure mit den hauseigenen Rennsportspezialisten zusammen. Insbesondere das Know-how aus der Formel 1 soll dabei geholfen haben, den Energiespeicher auf ein extrem kompaktes Format zu komprimieren und ein leichtes Batteriegehäuse zu entwickeln – laut Mercedes der Beweis dafür, dass das vielfach kritisierte F1-Engagement eben doch «unmittelbare Relevanz für die Entwicklung von Strassenfahrzeugen» habe.
«Blaupause für die Zukunft»
Um auch mit einer nachhaltigen, lederfreien Interieureinrichtung zur Ressourcenschonung und Umweltverträglichkeit beizutragen, wurden wiederum innovative Materialien von Start-ups aus aller Welt bezogen. So bestehen die Türgriffe aus Biosteel-Faser, einem hochfesten, biotechnologisch erzeugten und als vegan zertifizierten Seidengewebe. Für Details der Sitzpolster wurde eine Lederalternative aus Myzel, der unterirdischen Struktur von Pilzen verwendet. Ebenfalls als Lederersatz kam nachhaltiges Biomaterial auf Kaktusbasis zum Einsatz. Die Teppiche wurden derweil zu 100 Prozent aus schnell nachwachsender Bambusfaser hergestellt.
Wann, in welcher Form und ob der EQXX überhaupt jemals in Serie kommt, ist zweitrangig. Als Prototyp hat er jedenfalls den Anspruch, nichts weniger als «die Blaupause für die Zukunft des Automobilbaus» zu liefern. Und in der Tat ist zu hoffen, dass er das Ende der «Mehr ist mehr»-Strategie markiert, indem er glaubhaft aufzeigt, dass mehr Reichweite – aber auch mehr Luxus und Komfort – möglich ist, ohne mehr Energie und Ressourcen zu verbrauchen.
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