Maurice Zermattens «Kräuterarzt»Ein grandioser Stilist und ein politisch zu Unrecht verfemter Autor
Der Walliser ist aus dem literarischen Gedächtnis verbannt worden – aufgrund eines politischen Verdikts, das über 50 Jahre zurückreicht. Nun ist sein Alterswerk erstmals auf Deutsch zu lesen.

Maurice Zermatten – dieser Name löst auch bei belesenen Deutschschweizern keine Reaktion aus. Doch, vielleicht bei den älteren. War das nicht der, weswegen der Schweizerische Schriftstellerverband auseinanderbrach? Als Bichsel, Dürrenmatt, Frisch, Muschg und viele andere sich vom «reaktionären» Vorstand des SSV distanzierten, austraten und die Gruppe Olten gründeten?
1970 war das, und Auslöser eben SSV-Präsident Maurice Zermatten. Der hatte das «Zivilverteidigungsbuch» ins Französische übersetzt. Dieses war ein Ratgeber für den Verteidigungsfall, 1969 im Auftrag des Bundesrates erstellt, atmete den Geist des Kalten Krieges und, so die dissidenten Schriftsteller, suggerierte, Linke seien potenzielle Landesverräter, wobei Zermatten seiner französischen Fassung noch die eine oder andere Spitze aufgesetzt habe. Als Verbandspräsident also nicht tragbar, fand man, und weil der Vorstand ihn stützte, blieben nur Austritt und Neugründung.
Für den Altersroman gabs nur Absagen von Verlagen
Nun, das ist gefühlt Jahrhunderte her, inzwischen ist man erneut vereint, nennt sich «Autorinnen und Autoren der Schweiz», kürzt sich mit einem Sternchen ab und hat eine «Awareness-Charta». Die Zeiten, Ziele und Streitpunkte ändern sich. Maurice Zermatten aber ist im Orkus des Vergessenwerdens gelandet. Ja, so aktiv muss man es formulieren. In der Romandie pflegt eine Fondation Werk und Erinnerung, verleiht auch einen Preis zu seinen Ehren, aber in der Deutschschweiz ist er aus dem literarischen Gedächtnis verschwunden und aus den Buchhandlungen sowieso.
Dabei war Zermatten, der 1910 im Val d’Hérens geboren wurde und 2001 in Sitten starb, einmal ein grosser Name in der Schweizer Literatur, auch diesseits des Röstigrabens. Als 1936 sein erster Roman, «Le cœur inutile», erschien, schrieb Eduard Korrodi in der NZZ: «Habemus poetam!» Er wurde, wie auch die folgenden Romane (Zermatten schrieb insgesamt 18, dazu etliche Novellen, Theaterstücke, Künstler- und Dichtermonografien), alsbald ins Deutsche übersetzt.
«L’homme aux herbes», 1980 auf Französisch erschienen, ein Altersroman des Wallisers, jedoch nicht. Die Übersetzerin Hilde Fieguth holte sich, wie sie mir schrieb, Absagen bei etlichen Verlagen, oft mit Verweis auf die politische Vorgeschichte. Nun ist der Roman in ihrer Übersetzung bei einem kleinen Berliner Verlag erschienen, nicht gerade die beste Voraussetzung, um ein bedeutendes Werk der Schweizer Literatur dem hiesigen Publikum nahezubringen.

Ein bedeutendes Werk – das ist «Der Kräuterarzt», wie der Roman jetzt auf Deutsch heisst. Er spielt im vorigen Jahrhundert im Val d’Hérens, als es noch keine Strasse und keinen Arzt gibt. Nach Sitten hinunter braucht man drei Stunden, hinauf vier. Da fragt man, wenn es drückt und schmerzt, doch lieber den alten Niclas, der sich mit Kräutern auskennt und schon viele Kranke geheilt hat. Wen nicht, dessen Zeit war halt gekommen.
Aber jetzt ändern sich die Zeiten, auch im Val d’Hérens. Eine Strasse wird gebaut, eine Krankenstation soll ins Dorf kommen, regelmässige Besuche eines «richtigen» Arztes. Man gibt Niclas zu verstehen, dass man nichts mehr von ihm hält, nennt ihn gar einen Scharlatan. Selbst seine Tochter Marietta macht gemeinsame Sache mit dem Fortschritt. Gekränkt bricht Niclas auf, steigt, begleitet vom namenlosen «Hund» und seiner Ziege, zur Alp Prariond hoch, wo er einen Unterschlupf hat.
Der Roman begleitet ihn, nistet sich in seinem Dickschädel ein, hört ihm zu bei seinen Selbstgesprächen, seinem Hadern mit den undankbaren Dörflern, mit sich selbst, seinem Schwanken zwischen Stolz und Zweifel. Noch einmal ist er gefragt, als er zu einem Hirten geholt wird, zu spät erkennt er die Lungenentzündung. Es besucht ihn der Pfarrer; Tochter und Schwiegersohn versuchen vergeblich, ihn ins Dorf zurückzuholen. Niclas sammelt Kräuter, es wird Herbst, der erste Schnee fällt, er wird krank, er stirbt.
Wunderbare Beobachtungen, die unsere Wahrnehmung herunterdimmen
«Der Kräuterarzt» ist das Werk eines grossen Naturbeobachters und Naturschilderers. Wer will, lernt einiges über die Heilpflanzen der Alpen. Vor allem aber über das Bewusstsein eines Menschen, der sich in der Natur auf ganz «natürliche» Weise aufgehoben weiss. «Nature Writing» – heute ein grosser Trend! – avant la lettre. Und mit ganz unaufwendiger Metaphorik. «Zwei Vögel flogen vorbei, ohne das Gewand der anbrechenden Nacht zu streifen.»
Und Zermatten ist ein grandioser Stilist. Er beherrscht das Spiel der Perspektive: etwa beim Besuch des Pfarrers, der Niclas nur als eine zu rettende Seele sieht, während Niclas den zerfurchten Schädel des Besuchers darauf hin mustert, welche Krankheiten wohl darin nisten. Oder als Marietta da ist, sind wir plötzlich bei ihr und nehmen Niclas als unzugänglichen Sturkopf wahr, der er eben auch ist.
Das Buch ist voll wunderbarer Beobachtungen, die unsere Wahrnehmung herunterdimmen: «Tausend leise Geräusche betonten die Stille.» Und voller treffender Formulierungen wie dieser: «Es sah aus, als ob sein Mund nach einem Lächeln suchte; er fand aber nur eine Grimasse.»
Und natürlich behandelt Zermatten in diesem Altersroman ein grosses, zeitloses (und wohl sein eigenes?) Thema: die Erfahrung, der Realität nicht mehr zu entsprechen, von der Entwicklung überholt zu werden. Unter die Räder der beschleunigten Moderne zu kommen.
Ist das reaktionär? Reaktionär wäre ein politisches Programm, das Strassenbau und Ärztebesuche in Schweizer Tälern verbietet. Was Zermatten in «L’homme aux herbes» beschreibt, ist Erleben und Erfahrung, in grosse Prosa gefasst. Eben Literatur. Es ist gut, dass sie jetzt auch in deutscher Sprache und in hervorragender Übersetzung zu lesen ist.
Maurice Zermatten: Der Kräuterarzt. Roman. Aus dem Französischen von Hilde Fieguth. Edition Noack & Block, Berlin 2023. 260 S., ca. 34 Fr.
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