TV-Kritik «Tatort»Lesen, lesen, lesen
Im neuen Frankfurter Fall geht es um das Verhältnis von literarischer Fiktion und Wirklichkeit. Das ist spannend? Und wie!
So viel gelesen wurde noch nie in einem «Tatort»: Kommissarin Janneke (Margarita Broich) tut es beim Warten im Auto. Kommissar Brix (Wolfram Koch) nimmt das Buch mit nach Hause. Assistent Jonas (Isaak Dentler) liest es auf dem Kommissariat und ist enttäuscht, dass die Kollegen nicht gleich den Abend mit ihm im spontanen Lesekreis verbringen.
«Luna frisst oder stirbt» ist der Titel des Romans, den die drei verschlingen. Geschrieben hat ihn die 19-jährige Luise. Es geht um eine randständige Frau, die Hungerattacken erleidet, weil die Mutter den Kühlschrank nie auffüllt und sie höchstens Senf dort findet (süss, mild, scharf). Rotzig erzählt sie von Fehlgeburten, schlagenden Männer und einer Selbsttötung.
«Ich bin nicht Luna», betont Autorin Luise noch am Abend der Buchpremiere. Aber wenig später ist sie tot, liegt unter einer Brücke. Hat sie tatsächlich getan, was im Roman angedeutet war? Allerdings deuten Spuren darauf hin, dass sie nicht selbst gesprungen ist. Vielleicht findet sich im Buch ein Hinweis? Darum: lesen, lesen, lesen.
Der Verlag will einen Bestseller
Was ist Realität, was ist Fiktion? Das tönt nach literarischem Proseminar und nicht nach Krimi, aber Katharina Bischof (Regie und Buch, Letzteres mit Johanna Thalmann) gelingt es, daraus eine spannende Geschichte zu konstruieren. Denn verdächtig sind bald viele: die Verlagsleute, die auf einen Bestseller angewiesen sind. Die Mutter der Autorin, die seltsam pragmatisch auf den Tod reagiert.
Und da ist da noch eine Freundin der Autorin namens Nellie, deren Leben einige Ähnlichkeiten mit dem im Buch aufweist. Ist sie Luna? Und welche Interessen verfolgt deren Mama?
Weil es so viele Menschen sind, wirkt der «Tatort» etwas überladen. Aber die guten Darstellerinnen machen das wett: Die Mutter der Freundin zum Beispiel wird von Tinka Fürst gespielt, die in ihrer Mischung zwischen Nervosität und Überlegenheit an den französischen Star Marion Cotillard (Oscar für ihre Edith-Piaf-Rolle) erinnert.
Schon Freundinnen in «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo»
Ins Zentrum rücken aber immer mehr die beiden jungen Frauen, die hinter der fiktiven Luna stehen. Sie wirken eingespielt, was kein Zufall ist: Noch im Frühling waren sie in der Serien-Neuverfilmung des Drogenbestsellers «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» zu sehen: Jana McKinnon – jetzt Luise – spielte damals die Hauptperson Christiane F., Lena Urzendowsky – Nellie – war dort schon ihre pragmatische Freundin.
Jetzt sind die beiden also Kinder aus der Frankfurter Literaturszene. Ihre Geschichte berührt. Aber wo bleiben die Kommissare? Die nehmen sich, wie in allen guten Folgen dieses Frankfurter Teams, zurück. Das ist wohltuend, weil es so ungekünstelt wirkt: Sie machen auch bei Befragungen Pausen, schweigen lieber, als herumzuschreien. Und finden auf unaufgeregte Art die Lösung.
Vielleicht haben sie jetzt sogar Zeit, ein anderes Buch zu lesen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.