Leitartikel zum Krieg in NahostDas israelische Dilemma
Bei der angelaufenen Bodenoffensive riskieren die Israelis, von Opfern zu Tätern zu werden. Deshalb hoffen der Iran und seine Fusssoldaten von Hamas und Hizbollah geradezu, dass sich ihre Feinde im Gazastreifen verstricken.
Auch Israel hat nun seinen 9/11, einen historischen Terroranschlag, der den Staat erschüttert. Vom «Schwarzen Sabbat» schreibt der israelische Autor David Grossman. Der 7. Oktober 2023 begann mit einem sonnigen Herbstmorgen wie damals der 11. September 2001. Dann griff die Hamas an. Es war eine militärische Operation, die man in ihrer Komplexität den Islamisten aus dem Gazastreifen nicht zugetraut hätte. Israel erlebt einen Albtraum: 1300 Menschen ermordet, mehr als 3000 verletzt, Dutzende Geiseln verschleppt. Die Hamas hat sich damit endgültig als Terrororganisation demaskiert. Die Schweiz sollte entsprechend reagieren.
Grossman kritisiert die Regierung von Benjamin Netanyahu hart für ihr Versagen. Wobei er in seinem «Financial Times»-Essay Täter und Opfer keineswegs verwechselt: Die Besetzung der Palästinensergebiete sei «ein Verbrechen», schreibt der weltbekannte Schriftsteller. «Aber Hunderte von Zivilisten – Kinder und Eltern, Alte und Kranke – kaltblütig zu erschiessen, ist ein noch schlimmeres Verbrechen.» Selbst in der Hierarchie des Bösen bestehe eine «Rangordnung».
Netanyahu sollte sich fragen: Was wollen meine ärgsten Feinde von mir, und wie kann ich genau das Gegenteil tun?
Israel hat keine Wahl, es muss reagieren, auch mit Gewalt. Das ist das Recht und die Pflicht eines souveränen Landes. Politische Lösungen müssen warten. Nur wenn die Hamas entscheidend besiegt ist, kann Israel seine Sicherheit wiederherstellen. Nur dann gewinnen die Israelis ihr Vertrauen in den Staat zurück.
Gleichzeitig mischt sich in die Wut und Trauer der verständliche Wunsch nach Vergeltung, wenn möglich doppelt und dreifach so hart. Der Aufruf des israelischen Militärs vom Freitag an die Palästinenser, den nördlichen Gazastreifen innert 24 Stunden zu verlassen, lässt Schlimmes erahnen. Denn wohin sollen sie gehen, die mehr als eine Million Männer, Frauen und Kinder, von denen längst nicht alle mit der Hamas sympathisieren?
Die Gefahr einer Überreaktion ist offensichtlich. Sie würde Israel schaden, vor allem Israel: Noch nie in seiner sechzehnjährigen Laufbahn als Regierungschef war es wichtiger, dass Benjamin Netanyahu besonnen reagiert. Dabei sollte er sich zuallererst fragen: Was wollen meine Feinde von mir, und wie kann ich genau das Gegenteil tun? Die ärgsten sind der Iran und die Hamas, gefolgt mit geringem Abstand von der Hizbollah-Miliz im Libanon – eine terroristische Trias mit dem Iran als wichtigstem Financier.
Die Doktrin des Iran ist schlicht: Tod für Amerika, Tod für Israel, Kopftuch für die Frau. Die Attacke der Hamas kommt den Mullahs gelegen: Nicht nur haben sie zum Massenmord an Juden gratuliert, sie hoffen auch, dass im Iran die Revolte gegen die Herrschaft der Ayatollahs in den Hintergrund rückt. Vor allem ist die von den USA vermittelte Annäherung zwischen Israel und dem strategischen Gegner des Iran Saudiarabien, das sich traditionell für die Palästinenser einsetzt, in weite Ferne gerückt. Teheran hatte also mehrere Motive, den Angriff der Hamas mit Waffen und Know-how zu unterstützen.
Im dicht besiedelten Gebiet käme es zu Häuserkämpfen, einem militärischen Gleichmacher.»
Nun wünscht sich der Iran zusammen mit seinen willigen Fusssoldaten von Hamas und Hizbollah, dass sich Israel in einen verlustreichen Kampf im Gazastreifen verstrickt. Im dicht besiedelten Gebiet drohen Häuserkämpfe, ein militärischer Gleichmacher, der die technologische Überlegenheit der israelischen Streitkräfte schwinden lässt.
Kaum vermeidbar ist, dass Israelis irrtümlich Zivilisten oder Geiseln töten, was wegen der angelaufenen Luftangriffe bereits der Fall ist. Bei der angelaufenen Bodenoffensive dürften noch schlimmere Bilder entstehen. Sobald sie die Hamas-Propagandisten weltweit verbreiten, ist Israels moralische Überlegenheit dahin. Die Israelis würden von Opfern zu Tätern. Das Gedächtnis der internationalen Öffentlichkeit ist kurz, die derzeit weltweite Unterstützung für Israel würde schwinden.
Nach 9/11 haben auch die Amerikaner überreagiert und wurden zu Tätern.
Vor dieser Falle warnt US-Präsident Joe Biden. Er habe Premier Netanyahu gesagt, dass es «wirklich wichtig ist, dass Israel bei all dem Ärger und der Frustration, die es gibt, nach den Regeln des Kriegs handelt». Nach 9/11 haben die Amerikaner selbst überreagiert, Stichworte Abu Ghraib und Guantánamo, und wurden zu Tätern. Der Krieg gegen den Irak war ein strategischer Fehler, weil er wesentlich dazu beitrug, dass der Iran seinen Einfluss in der Region ausweiten konnte. Und in Afghanistan sind die Taliban zurück.
Wie aber kann Israel diesem Dilemma entrinnen? Dem Dilemma zwischen einem hässlichen Kampf gegen die Hamas und dem drohenden Verlust der internationalen Unterstützung? Ein Anfang ist gemacht: Netanyahu hat seine Regierung mit rechtsradikalen und ultrareligiösen Partnern umgebildet. Im Kriegskabinett sitzen neu seine Rivalen Benny Gantz und Gadi Eizenkot, beide sind liberal, beide sind ehemalige Generalstabschefs.
Damit signalisiert der Premier, dass er gegen die Hamas keinen Religionskrieg führt. Tatsächlich verläuft im Nahen Osten ein neuer Frontabschnitt im Krieg zwischen Demokratien und Autokratien. Ein Waffenstillstand ist nicht in Sicht, wie Friedensaktivist David Grossman schreibt: «Viele kriegslose Jahre werden vergehen müssen, bevor an Akzeptanz und Heilung überhaupt zu denken ist.» Vorerst bleibt den Israelis kaum eine Alternative zur Bodenoffensive, die sie allerdings so entschlossen wie vorsichtig führen müssen. Ansonsten riskieren sie, dass eine militärisch besiegte Hamas einen politischen Sieg erringt.
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