«Lebensgefahr» wegen Zürcher Justiz Brians Hausarzt reicht Strafanzeige gegen Pöschwies-Mediziner ein
Untersuchungen durch die Türklappe, problematische Medikamente: Die Vorwürfe gegen die Ärzte der Justizvollzugsanstalt Regensdorf wiegen schwer.
Bekannt wurde André Seidenberg als Vordenker der Schweizer Drogenpolitik. Aber der Mediziner war auch Kinderarzt von Brian K. Bis heute unterstützt er den bekanntesten Häftling der Schweiz und dessen Familie.
Jetzt erhebt Seidenberg schwere Vorwürfe gegen zwei Berufskollegen, die Brian als Gefängnisärzte in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies behandelt haben. Mehr noch, Seidenberg hat Strafanzeige eingereicht, unter anderem wegen versuchter schwerer Körperverletzung, Verletzung der Sorgfaltspflichten, Unterlassen von Nothilfe. «Meine teilweise schon bekannten medizinischen Vorwürfe wurden nie strafrechtlich untersucht», sagt er. «Das muss jetzt endlich geschehen.»
Neben den beiden Ärzten richtet sich die Strafanzeige auch gegen den damaligen stellvertretenden Direktor der Pöschwies, sowie «allenfalls weitere Mittäterinnen und Mittäter».
Medikamente ohne Abklärung
Auf 16 Seiten listet Seidenberg mutmassliche Verfehlungen auf, die sich in den zweieinhalb Jahren ereignet haben sollen, in denen Brian in Isolationshaft sass. Dabei stützt sich Seidenberg unter anderem auf Aktennotizen und medizinische Berichte der Pöschwies. Was er schildert, klingt teils haarsträubend.
So hatte Brian im Sommer 2021 nachweislich einen massiv erhöhten Blutdruck – aus Seidenbergs Sicht bestand gar Lebensgefahr. Die Pöschwies-Mediziner verschrieben dem Häftling ohne weitere Untersuchung zuerst Betablocker, und als diese nicht wirkten, griffen sie zu weiteren Medikamenten. Ein EKG wurde ihm verweigert.
«Zusätzliche Untersuchungen [wären] aus ärztlicher Sicht zwingend.»
Das widerspreche sämtlichen Regeln der Kunst, sagt Seidenberg. Wenn ein 26-Jähriger plötzlich derart hohen Blutdruck habe, müssten zwingend die Ursachen abgeklärt werden. Denn der hohe Blutdruck könne Symptom einer lebensgefährlichen Grunderkrankung sein.
Zu einem ähnlichen Schluss kam auch die Zürcher Gesundheitsdirektion, die in einem Schreiben an die Pöschwies festhielt: «Zusätzliche Untersuchungen [wären] aus ärztlicher Sicht zwingend.» Zumindest müssten die behandelnden Ärzte aber schriftlich festhalten, warum sie auf solche Abklärungen verzichteten.
Untersuchung nur durch die Klappe
Brian wurde, wie Seidenberg in der Strafanzeige schildert, grundsätzlich nur durch die Essensklappe untersucht, weil er als gefährlich galt. So auch, als er nach einem gewalttätigen Zusammenstoss mit seinen Aufsehern im April 2019 über Verletzungen im Gesicht und an diversen Gelenken klagte.
Diese seien «allesamt leichter Natur», schrieb der behandelnde Arzt in den Akten. Diese Einschätzung habe sich als nachweislich falsch erwiesen, heisst es in der Strafanzeige. Brian habe danach monatelang Schmerzmittel erhalten. Trotzdem sei er nie auf mögliche erhebliche Verletzungen, etwa einen Bruch des Nasen- oder Jochbeins, untersucht worden.
«Die Ärzte versuchen ihn von falschen Tatsachen zu überzeugen.»
Einmal habe ihm ein Arzt ein Kortison-Gemisch in den schmerzenden Ellbogen injiziert – gemäss den Akten ohne genauere funktionale Abklärung im Vorfeld. Das könne zu unerwünschten Nebenwirkungen und Infektionen führen, so Seidenberg.
Ein anderes Mal erfolgte eine zahnärztliche Visite durch die Essensklappe, weil Brian klagte, in seinem Unterkiefer wachse ein Zahn. Der Arzt begutachtete offenbar nur den Oberkiefer und versuchte Brian dann zu überzeugen, dass alles in Ordnung und es unmöglich sei, dass ihm noch ein Zahn wachse.
Seidenberg hält dieses Vorgehen für unverständlich: «Die Ärzte versuchten, ihn von falschen Tatsachen zu überzeugen.» Für ihn ist klar, dass bei Brian in dem Moment ein Weisheitszahn durchgebrochen sein muss. Das ist selbst in der Lebensmitte noch möglich.
Unangenehm, aber unumgänglich
Grund für die laut Seidenberg ungenügende Behandlung: Brians angebliche Gefährlichkeit, die der Arzt für ein «Konstrukt von früher» hält: «Um das extreme Haftregime aufrechterhalten zu können, wurde der wehrlose Brian K. einem schwerwiegenden Risiko für seine Gesundheit, Leib und Leben ausgesetzt.»
Die Pöschwies-Verantwortlichen und die behandelnden Ärzte hätten «die Unmöglichkeit des Handelns im Rahmen ihrer beruflichen Pflichten eingestehen müssen», heisst es zum Schluss der Strafanzeige. Und weiter: «Es ist unangenehm, Berufskollegen so schwerwiegender Vergehen zu bezichtigen, aber leider unumgänglich geworden.»
Für alle Betroffenen gilt die Unschuldsvermutung.
Justizdirektion äussert sich nicht
Die Justizdirektion will sich auf Anfrage nicht zu den Vorwürfen äussern. Noch sei die Strafanzeige dort nicht eingegangen. «Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sowie des Arztgeheimnisses dürfen wir aber gegenüber der Öffentlichkeit ohnehin keine personenbezogenen Daten preisgeben», schreibt eine Sprecherin von Justizvollzug und Wiedereingliederung (JuWe).
Generell gelte, dass alle Inhaftierten die nötige medizinische Unterstützung erhielten, bei Bedarf würden sie «in geeignete Gesundheitseinrichtungen (Spital oder Klinik)» eingewiesen. Im Arztdienst arbeite ausschliesslich ausgebildetes Personal. Arztpersonen orientierten sich dabei an berufsethischen Richtlinien. Behandlungen erfolgten im Konsens mit den Patienten.
Update von 15:30 Uhr: Der Text wurde um die Reaktion der Justizdirektion ergänzt.
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