Abschluss des Filmfestivals CannesLasst die Monster rein
Sex mit einem Cadillac, Mischwesen von Mensch und Metall: «Titane» von Julia Ducournau ist der Sensationssiegerfilm der 74. Filmfestspiele von Cannes. Von nun an ist alles möglich.
Zunächst führt jetzt einfach mal kein Weg um die folgende Tatsache herum: «Titane», der Sensationssiegerfilm der 74. Filmfestspiele von Cannes, handelt von einer Frau, die orgiastischen Sex mit einem Auto hat, dann eine Schwangerschaft mit viel Ausfluss von Wagenschmiere durchlebt und schliesslich unter unvorstellbaren Schmerzen ein Mischwesen zur Welt bringt, dessen Wirbelsäule aus purem Titan ist.
Wer an dieser Stelle ungläubig lacht und dann fassungslos den Kopf schüttelt, ist nicht allein. War es bisher die Funktion des Festivals, den Kanon der Filmgeschichte wohlabgewogen in Richtung Zukunft fortzuschreiben, wurden bei der Preisverleihung am Samstagabend mit einem Schlag alle Grenzen gesprengt. Das wird in die Geschichte eingehen, als ein Moment der Aufregung und Verstörung zugleich.
Julia Ducournau dankte Cannes für den Mut, Filme endlich aus den «Mauern der Normativität» zu befreien.
Auch der Juryvorsitzende Spike Lee muss das gespürt haben. Bei der Abschlusszeremonie trug er einen Anzug, der aussah, als hätte er sich auf einem frisch hingeklecksten Jackson-Pollock-Gemälde gewälzt. Er wirkte desorientiert und zerstörte die ganze Dramaturgie des Abends, indem er gleich am Anfang mit dem Titel des Siegerfilms herausplatzte. Damit war das ausgeklügelte Puzzlespiel, welcher Film welche Auszeichnung bekommen sollte, witzlos geworden. Es ging nur noch um Julia Ducournau, die zweite Regisseurin in der Geschichte von Cannes, die die Goldene Palme gewonnen hat.
Als die 37-jährige französische Regisseurin auf die Bühne kam, entpuppte sie sich als hochgewachsene, klassisch frisierte, superglamouröse blonde Erscheinung, neben der sogar die Preisüberreicherin Sharon Stone spontan verblasste. Die Worte, die Ducournau dann sprach, sprengten aber sofort auch dieses Bild: Sie dankte Cannes für den Mut, Filme endlich aus den «Mauern der Normativität» zu befreien, für einen gewaltigen Schritt Richtung Inklusivität, Fluidität und Diversität und schliesslich dafür, in die Ruhmeshalle der Palmengewinner «Monster hineinzulassen».
Alexia weckt Begehren, aber es ist eine fatale Attraktion
Und ja, das trifft es schon, die Hauptfigur ihres Films «Titane» als Monster zu beschreiben. Gleich in der ersten Szene, als kleines Mädchen auf dem Rücksitz im Familienauto, macht Alexia solchen Krach, dass der Vater am Steuer einen Unfall hat und sie selbst nur mit einer grossen Titanplatte im Schädel gerettet werden kann. Danach spürt sie den Impuls, sich zärtlich an Autos zu schmiegen. In der nächsten Szene ist sie bereits erwachsen, jetzt gespielt von Agathe Rousselle mit verstörend dunklem Blick. Ihr Geld verdient sie als Erotikstar, der nackte Körper ist ihr Arbeitsmittel, und auf einer Autoshow spürt sie wieder ganz ungewöhnliche Gelüste.
Wie um den Schock der Hauptgewinnerin aufzufangen, wirkte der Rest der Preise für die Filmemacher fein austariert und auf möglichst viele Männer verteilt.
Das steht natürlich in einer Tradition, der Schriftsteller J.G. Ballard und sein Filminterpret David Cronenberg haben mit «Crash» schon vor langer Zeit erkundet, welch wildes und unstatthaftes Begehren sich auch auf das glänzende Chrom und die geschwungenen Formen von Automobilen richten kann, die ja in der Tat unter anderem als Lustobjekte entworfen werden. Julia Ducournau fügt dem aber nun ein ganz neues, eigenes Kapitel hinzu, dazu gleich mehr.
Wie um den Schock der Hauptgewinnerin aufzufangen, wirkte der Rest der Preise für die Filmemacher fein austariert und auf möglichst viele Männer verteilt, der «Grand Prix» und der «Prix du Jury» etwa wurden gleich doppelt vergeben: Den einen teilten sich der iranische Oscargewinner Asghar Farhadi («A Hero») und der finnische Newcomer Juho Kuosmanen («Compartment No 6»), den anderen der frühere Cannes-Hauptgewinner Apichatpong Weerasethakul («Memoria») und der Israeli Nadav Lapid («Ahed's Knee»). In den Schauspiel-Kategorien gewannen die Norwegerin Renate Reinsve, die in «The Worst Person in the World» die Liebeswirren eines ruhelosen Millennials durchlebt, und der Australier Caleb Landry Jones, der in «Nitram» den schlimmsten Amokläufer in der Geschichte seines Landes porträtiert.
Aber wozu über die Feinverteilung dieser Meriten diskutieren, wenn alle Blicke sich jetzt auf «Titane» und dessen Heldin richten? Die rätselhafte Alexia weckt Begehren in Männern wie Frauen, die ihr im Film begegnen, aber das ist eine fatale Attraktion. Schon beim ersten Kuss erwachen mörderische Impulse in ihr, ein Stab, den sie in ihrem blonden Haarknoten trägt, dient ihr als tödliche Stichwaffe. So wird sie zur Serienkillerin, die in Südfrankreich eine Spur des Todes hinterlässt, und zur Gejagten. Der «Sex» mit einem dominanten, stark gefederten und hochaggressiven Cadillac-Oldtimer (der Gottseidank nicht in Hardcore-Bildern gezeigt wird) liegt da schon hinter ihr, etwas Rätselhaftes wächst in ihr heran.
Sehnsucht nach Akzeptanz und Erlösung
Als wäre das alles nicht schon genug, nimmt der Film an dieser Stelle noch einmal eine neue Wendung: Alexia sieht das Plakat eines seit Jahrzehnten vermissten Jungen, bindet sich unter Schmerzen die Brüste und den Schwangerschaftsbauch ab und gibt sich als dieser verlorene Sohn eines Feuerwehr-Einsatzleiters aus. Der wird vom alternden französischen Star Vincent Lindon gespielt, und so steht diese Männerfigur auch für das (wenn auch längst schwer traumatisierte) Macho-Frankreich der Vergangenheit. So verwundet ist seine Figur, dass ein Raum für unerwartete Zärtlichkeit und Empathie entsteht – dieser gefürchtete und von seinen Männern respektierte Capitaine ist am Ende bereit, jeden zu akzeptieren, der sein «Sohn» sein will, und jedes nur denkbare Wesen als sein Enkelkind...
Es muss diese Sehnsucht nach Akzeptanz und Erlösung gewesen sein, die am Ende auch die Jury berührt hat, die in der Mehrheit weiblich besetzt war, mit Mati Diop, Mylène Farmer, Maggie Gyllenhaal, Jessica Hausner und Mélanie Laurent. Die Sehnsucht macht Julia Ducournaus Film auch zu mehr als nur einem Kuriosum, sie lässt den Schluss zu, dass die alten Wege für die Definition des «Normalen» und die Ausgrenzung alles Andersartigen auch im Kino inzwischen als so belastend empfunden werden, dass nahezu jede Art des Aufbruchs hin zu einer Verbundenheit über alle Grenzen hinweg gewaltige Resonanz erzeugt.
Die Wildeste im Wettbewerb hat gewonnen
Cannes hatte schon immer ein Herz für Kinomonster, in den Mitternachts-Screenings tummelten sie sich seit langem – nur war das eben eine sorgsam eingehegte Nische für jene Art von Angst und Begehren, die man im Kanon der gefeierten Preisträger dann doch nicht sehen wollte. Woran liegt es, dass diese Mauer jetzt gefallen ist, dass gerade diesem Film der Durchbruch gelang? Da könnte eine nachpandemische Lebensgier eine Rolle spielen, eine Lust, nach der langen Stille mal so richtig allen Gefühlen freien Lauf zu lassen, wie wild und dunkel sie auch immer sind.
Oder ist es ein deftiger Kommentar der Jury zur Auswahlpolitik des Festivalleiters Thierry Frémaux, der alte und traditionell männlich dominierte Cannes-Traditionen gern an jeder Stelle verteidigt? Du gibst uns einen Wettbewerb mit vier Regisseurinnen und zwanzig Regisseuren zu bewerten? Dann heben wir doch einfach mal die wildeste und unerfahrenste Frau, die gerade mal ihren zweiten Film fertiggestellt hat – ihr Debüt war der ebenso verstörenden «Grave / Raw» von 2016, in dem eine strenge Vegetarierin unstillbare kannibalistische Gelüste entwickelt –, auf die höchste Stufe der weltberühmten roten Treppe von Cannes!
Ob der Film «Titane» aus sich selbst heraus über die Jahre hinweg bestehen wird, ob er tatsächlich die innere Kohärenz und Herzenslogik hat, die nötig sind, damit man ein Werk immer mal wiedersehen will? Da kann man Zweifel haben. Und Inklusivität, Fluidität und Diversität sind vielleicht dann doch vor allem Kategorien des menschlichen Miteinanders, die nicht unbedingt dadurch aufgewertet werden, dass man in komischer Überzeichnung auch gleich noch Autos in das bunte Treiben miteinbezieht. Diese Zweifel verblassen jedoch gegenüber dem genialen Effekt dieses Preises: Wenn an der Croisette keine Idee mehr zu verrückt ist, um mit der Goldenen Palme nach Hause zu gehen – welche bisher unterdrückten Storys in den Köpfen der Filmemacherinnen und Filmemachern werden dann jetzt bitte entfesselt? Wir können es, ehrlich gesagt, kaum erwarten.
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