Konflikt im Kosovo «Die Menschen fragen sich, ob es Krieg geben könnte»
Die Lage an der kosovarischen Grenze zu Serbien wird immer brenzliger. Wir fragen bei TV-Expertin Zana Avdiu in Pristina nach, wie die Stimmung im Land ist.
Anfang Woche wurde im Norden Kosovos eine Polizeieinheit von serbischen Freischärlern in einen Hinterhalt gelockt. Sie verschanzten sich in einem Kloster, ein kosovarischer Polizist sowie drei Freischärler wurden getötet. Die Spannungen in der Region nehmen zu, ein grosses, von den Kosovaren beschlagnahmtes Waffenarsenal zeugt vom Aggressionspotenzial.
Politbeobachter gehen davon aus, dass die Serben die Gewalt ausgelagert haben, um sich ahnungslos geben zu können. Ihr Ziel sei es, Zeit zu gewinnen, um die serbisch dominierten Territorien im Norden Kosovos kontrollieren zu können.
Zana Avdiu ist im Kosovo eine Berühmtheit: Die Juristin engagiert sich für Frauenrechte und ist Teil einer regelmässigen Diskussionsrunde am Fernsehen. In der Schweiz bekannt wurde die 30-Jährige im Dezember 2022, als sie Granit Xhaka für dessen Griff in den Schritt während des WM-Spiels gegen Serbien kritisiert hatte und danach Polizeischutz brauchte. Avdiu äussert sich nach wie vor pointiert zu politischen Themen. Sie lebt in Pristina.
Frau Avdiu, waren Sie überrascht von dem, was letzte Woche an der kosovarischen Grenze zu Serbien passiert ist?
Ich habe Spannungen und Probleme erwartet, aber nicht in dieser Form und in diesem Ausmass. Der Vorfall vom 24. September war jenseits aller Vorhersagen, selbst für die internationale Diplomatie. Die britische Abgeordnete Alicia Kearns und Sicherheitsexperten im Kosovo hatten gewarnt, dass Waffen in den Kosovo gelangen würden. Aber niemand hatte erwartet, dass eine grosse, gut organisierte paramilitärische Gruppe im Kosovo eindringen würde, um einen bewaffneten Konflikt auszulösen.
Wie geht es den Menschen im Kosovo angesichts der Vorgänge im Norden?
Sie sind besorgt. Und sie fragen sich, ob es Krieg geben könnte. Selbst in Pristina ist eine Anspannung spürbar, die Anschläge vom 24. September sind überall Thema. Es herrscht die weitverbreitete Meinung, dass Serbien es nicht wagen wird, mit seiner regulären Armee anzugreifen, und deshalb paramilitärische Gruppen gebildet hat. Damit soll ein Konflikt im Kosovo ausgelöst werden, ohne Serbien direkt einzubeziehen. Ähnlich, wie es in Bosnien und Kroatien in den 1990er-Jahren geschah.
Erwarten Sie einen Krieg?
Sicherheitsexperten sagen, dass eine bewaffnete Gruppe von 80 Paramilitärs, die gut vorbereitet und organisiert ist und nicht zerschlagen wurde, einer tickenden Bombe gleicht, die jeden Moment explodieren kann. Meiner Meinung nach ist das Einzige, was auf dem westlichen Balkan vorhersehbar ist, die Unberechenbarkeit.
Bereiten sich die Menschen in irgendeiner Form auf einen Krieg vor?
Mir ist nichts dergleichen bekannt.
Ist es wirklich vorstellbar, dass serbische Truppen Nato-Truppen angreifen?
Ich bezweifle, dass Serbien aufgrund von Vereinbarungen mit der Nato – wie dem Kumanovo-Abkommen – den Kosovo mit seiner regulären Armee angreifen wird. Die Gefahr geht eher von den örtlichen Serben aus. Wenn es zu einem Konflikt kommt, wird er durch sie ausgelöst werden.
Die Vorgänge erinnern ungut an die Anfänge des russischen Überfalls auf die Ukraine. Macht Ihnen das Sorgen?
Es gibt tatsächlich Ähnlichkeiten: Da sind paramilitärische Gruppen, die Versuche, einen lokalen Konflikt zu entfachen, die Radikalisierung der lokalen Serben und eine ähnliche Rhetorik. Vor allem die Sprache ist die gleiche, im Sinne von: «Wir werden unterdrückt», «Kurti ist ein Faschist», das vergleichbar ist mit «Selenski ist ein Nazi». Oder: «Wir haben genug ertragen», «Märtyrer sind gestorben» und «Wir sind Freiheitskämpfer».
Der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti sagte diese Woche in einem Interview mit der NZZ, er halte nichts von einem Landtausch, also davon, Gebiete im Norden Kosovos an Serbien abzutreten, während gleichzeitig Gebiete im Süden Serbiens an den Kosovo gehen würden. Was sagen Sie dazu?
Ein Gebietsaustausch wurde auf dem Balkan schon immer als Lösung diskutiert, ist aber problematisch, weil er nichts löst, sondern nur neue ethische Probleme schafft. Jeder Staat hat Ansprüche gegenüber anderen Staaten, und dass die Grenzen auf dem Balkan nicht ohne Blutvergiessen geändert werden können, sah man in den 1990er-Jahren. Deshalb halte ich einen Gebietsaustausch für die gefährlichste Idee überhaupt. Die Bürgerinnen und Bürger des Kosovo haben sich ebenfalls dagegen ausgesprochen, im Jahr 2019 gab es grosse Proteste gegen diese Idee.
Inwiefern könnte es sich um ein Machtspiel des serbischen Präsidenten Aleksandar Vucić handeln, der sich damit im Vorfeld der Wahlen die Stimmen der Nationalisten sichern will?
Die Proteste, die es gegen Vucić gab, gingen von den liberalen Serben aus, und der Grund dafür war ein Mord an einer Schule. Vucić braucht also nicht die Stimmen der Nationalisten, sondern vielmehr die der Liberalen. Und deshalb glaube ich nicht, dass es bei der ganzen Sache um die Wahlen geht. Oder vielleicht sollte ich es eher so formulieren: Es geht wohl zumindest nicht ausschliesslich um die Wahlen.
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