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Meinung

Kommentar zu den Russland-Wahlen
Viele Menschen wählen Putin, um sich nicht verdächtig zu machen

A woman undergoes security control as she arrives to vote in Russia's presidential election at a polling station in Moscow on March 17, 2024. Russian opposition has called on people to head to the polls on March 17, 2024, at noon, in large numbers to overwhelm polling stations, in a protest which they hope will be a legal show of strength against President Vladimir Putin. (Photo by NATALIA KOLESNIKOVA / AFP)
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Wahlen sollten idealerweise auch ein Realitätscheck sein. Was wollen die Menschen, wie denken sie über ihre Politiker? In Russland weiss das niemand so genau, und Wladimir Putins Abstimmungsritual in den vergangenen Tagen hat keine Antwort geliefert. Ausgerechnet eine Beerdigung hat kürzlich mehr über die Gefühle der Russen verraten, als es Putins Wahl je könnte. So viel zum traurigen Zustand der russischen Gesellschaft.

Dass Zehntausende stundenlang vor Kirche und Friedhof standen, um sich von Alexei Nawalny zu verabschieden, hat viele überrascht. Nicht, weil es ausgerechnet um Nawalny ging – in ungefährlichen Zeiten hätten sicher noch viel mehr Menschen dem wichtigsten russischen Oppositionellen die letzte Ehre erwiesen. Wobei, in ungefährlicheren Zeiten hätte es wohl gar keine Beerdigung gegeben. Doch im heutigen Russland ist es wahnsinnig riskant, sich zu bekennen. Erstaunlich viele haben es trotzdem getan: Indem sie für Nawalny applaudiert haben, zeigten die Trauernden, wo sie politisch stehen.

Viele Chefs verlangen Beweise

Auf Nawalnys Beerdigung, und das ist wichtig, haben die Leute einander also erkannt. Womöglich haben sie ihren Nachbarn, Lehrer, Zahnarzt in der Menge vor der Kirche gesehen. Sie haben Leute entdeckt, von denen sie vorher gar nicht wussten, dass sie kritisch über den Kreml denken. Sie haben gesehen, wie viele es sind.

Ein solches Erkennen gab es bei der Wahl nicht. Wenn jemand hingeht und Putins Namen ankreuzt, sagt das wenig über seine politische Haltung aus. Leute nehmen teil, um sich nicht verdächtig zu machen, um ihren Job zu behalten, weil es eh egal ist. Man darf nicht unterschätzen, unter welchem Druck die Menschen dabei stehen. Viele Chefs verlangen Beweise dafür, dass die Mitarbeiter abgestimmt haben, Selfies aus dem Wahlbüro.

Wer nichts ändern kann, ist auch an nichts schuld

Doch zum Druck kommt auch ein grosses Desinteresse. Jahrzehntelang haben die Menschen gelernt, sich von Politik fernzuhalten. Die Wahl kümmert viele schlicht nicht genug, um sie zu boykottieren. Für sie ist es bequemer, ihr Kreuzchen zu machen und dann Ruhe zu haben. Es sind dieselben Leute, die stumpf der Propaganda glauben, weil es am einfachsten ist. Wer Krieg furchtbar findet, kann sich dank Propaganda damit trösten, dass die Russen ihn ja nicht angefangen haben. Wer nichts ändern kann, ist auch an nichts schuld.

Das Problem daran ist: Wenn jemand in Russland laut die Armee lobt, weiss man nie, ob er das aus Überzeugung oder Selbstschutz tut. Und welche Art von Selbstschutz eigentlich? Schützt man sich vor den eigenen Schuldgefühlen oder davor, als Kriegsgegner diskreditiert zu werden? Schliesslich sind das zwei völlig verschiedene Motive. Ohne Realitätscheck bleibt die russische Gesellschaft undurchsichtig.

Putins Wahltheater

Diese Grundhaltung – «Wir können ja eh nichts ändern» – gilt übrigens nur eingeschränkt, wenn es um Putin geht. Dieser ist alternativlos, aber er entlastet die Menschen auch. Die Russen möchten daran glauben, dass da oben an der Spitze jemand steht, der die richtigen Entscheidungen trifft, ihnen alle Verantwortung abnimmt. Putin setzt also auf zwei Dinge: auf Angst und Passivität.

Problematisch wird es dann, wenn Passivität nicht mehr genügt. Wenn die Russen sich freiwillig zur Armee melden, Kinder Briefe an Soldaten schreiben, Frauen mehr Kinder bekommen und sie zu kleinen Patrioten erziehen sollen. Oder eben, wenn sie wählen gehen sollen. Denn Putin braucht eine hohe Beteiligung, damit sein Wahltheater funktioniert.