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Meinung

Kolumne «Fast verliebt»
Je ne regrette rien?

Der freie Mensch ist ein reuloser Mensch: Kolumnistin Claudia Schumacher.
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Reue hat keinen guten Ruf. Für die einen ist sie eine Art «nachträglich verrichtete Vergnügungssteuer» (Senta Berger), das protestantisch-schlechte Gewissen nach ein paar Gläsern zu viel. Reue ist kein schönes Gefühl, und sie tritt gerne Arm in Arm mit ihrer unschönen Schwester auf: der Scham. Zusammen sind sie zwei starke Unterdrückerinnen, die Menschen beugen.

Mit diesen Horror-Schwestern arbeiten Religionen gerne zusammen, um ihre Schäfchen gefügig zu machen. Der moderne Mensch hat das erkannt und findet das ungesund. Von Scham und Reue muss man sich befreien – auf den Schrottplatz der Geschichte mit denen! «Je ne regrette rien» ist die neue Lösung: Der freie Mensch ist ein reuloser Mensch.

Aber stimmt das?

Die Neurologie würde wohl widersprechen. Hier ist der reulose Mensch einer mit Hirnschaden. Tatsächlich hat sich in der Forschung gezeigt, dass Menschen mit intaktem Hirn allesamt Reue empfinden; sie fällt nur bei lädierten Hirnen aus.

Könnte es also sein, dass sie zu uns gehört, die Reue? Benötigen wir sie vielleicht sogar ein bisschen?

Ich hatte mal eine Grosstante in Ungarn, wo ein Teil meiner Familie herkommt, über den ich wenig weiss. Ich mochte sie sehr und hegte lange den Plan, sie zu besuchen und mir alles von ihr erzählen zu lassen. Aber es schob sich immer was dazwischen, vor allem die Arbeit. Meine alte Grosstante musste warten. 

Aber das konnte sie nicht: Sie starb einfach – während ich sehr beschäftigt damit war, Dinge zu erledigen, um sie später besuchen zu können.

Meine Trauer war grösser, als ich erwartet hatte. Auch, weil etwas Beschwerendes an ihr hing: Reue. Warum war ich nur so blöd gewesen, alles andere wichtiger zu finden, als einfach mal wieder zu dieser Frau zu reisen, die mir viel bedeutete?

Es ist die Reue, die uns erinnert

Danach gefragt, was sie am meisten bereuen, sagen Menschen auf dem Sterbebett immer wieder das Gleiche: zu viel Arbeit, zu wenig Zeit für geliebte Menschen, der Freude zu wenig Raum geschaffen. Klingt simpel, wissen wir eigentlich – oder? Tja: Leider vergessen wir es auch ständig. Es ist die Reue, die uns erinnert.

Mir hat sie geholfen, meine Prioritäten zu sortieren. Anderen hilft sie vielleicht dabei, ein schlechtes Dating-Muster zu durchbrechen, weil der letzte Typ so mies war und die Beziehung so unnötig, dass jetzt wirklich mal was Neues versucht werden muss, ein ganz anderer Typ. Reue kann uns auch dabei helfen, sanfter zu werden. Besser zu streiten. «Ich nehme inhaltlich nichts zurück», sagte die Philosophin Svenja Flasspöhler gerade in einem Interview: «aber hätte ich damals meine Affektlage besser durchschaut, hätte ich hier und da vielleicht ruhiger argumentiert.»

Reue ist Lernschmerz, sie fühlt sich unangenehm an. Aber wenn wir sie zulassen, investieren wir auch in eine Zukunft, in der wir die Dinge besser machen wollen, und dafür lohnt es sich vielleicht, das zwickende Gefühl.