TV-Kritik «Tatort» Klarträume und unklare Wirklichkeit
«Dreams», der neue Münchner «Tatort», erzählt vom Überlebenskampf in einer dauer(über)fordernden Leistungswelt – mit einer tollen Rolle für die Schweizerin Jara Bihler.
Erinnern Sie sich an «Inception» – den Film, in dem Leonardo DiCaprio träumend in den Traum eines anderen schlüpft? Er wurde 2021 offiziell zum «verwirrendsten Film aller Zeiten» gekürt. Gefeiert wurde er trotzdem. Und offenbar haben die Münchner «Tatort»-Macher sich von der Sci-Fi-Fantasie im Zwischenreich von Traum und Wirklichkeit inspirieren lassen, sie aber auf unsere Gegenwart herunterkondensiert. «Dreams» spielt jedenfalls mit der Verwirrung angesichts verwischter Realitätsgrenzen – und setzt noch eins drauf.
Nämlich das Thema «Dünne Luft in der Welt von Klassik- und Sportgenies»: hier hochfliegende Träume, da krasse Abstürze. So stolpert die aufstrebende Geigerin Marina ins Mordkommissariat und beichtet Batic (Miroslav Nemec) und Leitmayr (Udo Wachtveitl), dass sie vermutlich ihre beste Freundin umgebracht hat, die gleichzeitig ihre Konkurrentin ist. Aber vielleicht seis auch bloss ein böser Traum gewesen.
Die weisshaarigen Kultkommissare finden am angeblichen Tatort auf einem Hochhausdach mit Urban-Farming-Bienenstöcken viel Blut und noch mehr offene Fragen. Zum Beispiel: Wo ist die Leiche? Gabs Komplizen? Ist Marina nur eine versierte Schauspielerin – wie ihre Darstellerin, die 24-jährige Schweizerin Jara Bihler? Oder doch eher psychisch krank? Oder ist sie gar ein Opfer?
Eine Expertin für luzide Träume, sogenannte Klarträume, soll da weiterhelfen. Zu ihren Studienprobanden gehörten Marina, die verschwundene Freundin und deren Freund: Hochleistungsmenschen, die übersTraumtraining ganz nach oben gelangen wollten. Die zwei Geigerinnen kämpften um dieselbe, karriererelevante Orchesterstelle.
«Wissen Sie, dass der Stresslevel von ‘nem Orchestermusiker genauso hoch ist wie von einem Formel-1-Piloten?», fragt Ermittler-Sidekick Kalli (Ferdinand Hofer hat sich freigespielt). Dieser Vergleich geistert als Running Gag durchs Drehbuch von Moritz Binder und Johanna Thalmann. Überhaupt ist Buch wie Regie – der 42-jährige Boris Kunz gibt sein «Tatort»-Debüt – die Lust an der Recherche ebenso anzumerken wie die an der spielerischen Umsetzung.
Man lernt eine Menge über Klarträume, und anschaulich zeigt der Krimi auch den Druck, der auf Talenten lastet, das Depressionsrisiko und Phänomene wie den Musikerkrampf (eine Art Fingerlähmung). Das tolle Münchner Rundfunk-Orchester mit Dirigent Ivan Repušic liefert dazu den Soundtrack: Marinas Auftritte und die Filmmusik verschmelzen – so wie in diesem Film übergangslos auch Traumbilder und Realität.
Geboostet werden die filmischen Vexierspiele auch durch eine raffinierte architektonische Szenerie und durch dramaturgische Finessen wie gedoppelte Handlungen. Nicht zuletzt: Die jungen Leute kommen nicht ohne Neuro-Enhancer aus, Ritalin für die Konzentration, Benzos für die Beruhigung, Uppers, Downers. Sie sind damit gar nicht mehr so weit weg von der Wirklichkeit Durchschnittsheranwachsender in einer dauer(über)fordernden Leistungskultur. Und wir rücken umso näher ran an diese gekonnte «Tatort»-Fiktion.
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