Gratisleser werden AbonnentenKing Kong der Medien
Trump und die Corona-Krise haben die «New York Times» zur einflussreichsten Zeitung gemacht. Ihr Erfolg ist aber nicht unproblematisch.
Die «New York Times» kann alles. Sie bohrt tief in die Abgründe der Regierung Trump, sie berichtet aus allen Kontinenten über die Corona-Krise, sie spricht mit den führenden Experten über den Klimawandel, sie produziert ein Magazin und eine Kinderbeilage, Dutzende von Podcasts sowie Kreuzworträtsel, Kochrezepte und Reisebeilagen, die legendär sind. Und mitten in der tiefsten Wirtschaftskrise seit 1932 ist ihr ein seltenes Kunststück gelungen. Sie hat ihr Wachstum auf mehr als sechs Millionen Abonnenten beschleunigt und ist die weltweit grösste unabhängige Informations- und Meinungsplattform geworden.
Ihr Geschäftsmodell wird von der Konkurrenz beneidet. Seit der Trump-Wahl stellte sie dieses total um und konnte ihre Abhängigkeit vom Werbemarkt entscheidend lockern. 65 Prozent der Einnahmen kommen heute von Abonnentinnen und Abonnenten und nur noch 24 Prozent von Inseraten und Anzeigen. Die Philosophie ist zwingend: «Wir investieren weiterhin voll in den Journalismus und digitale Inhalte», sagt Konzernchef Mark Thomson.
Anders als üblich in der Branche wird hier nicht Abbruch betrieben. «Wir planen keine Entlassungen, sondern wollen bis Ende Jahr weiter ausbauen.» Ein Beispiel: Thomson will das Podcast-Studio Serial Productions kaufen, das mit über 300 Millionen Downloads eines der erfolgreichsten der Branche ist. Das müsste Grund zum Feiern sein. Doch der Erfolg zeige zunehmend auch Schattenseiten, sagt einer, der es wissen muss.
Meinungsvielfalt wird limitiert
Ben Smith war acht Jahre Chef der Newsplattform «Buzzfeed» und hatte den Anspruch, «eine alte Kiste wie die ‹Times› vom Tisch zu fegen». Doch Smith konnte nicht widerstehen, als die alte Tante ihm einen Job offerierte. Nun ist er Medienkritiker der «Times», und sein erstes Urteil ist erschienen. Er erläutert im Detail, «warum der Erfolg der ‹New York Times› schlecht für den Journalismus sein könnte». Die Zeitung sei derart dominant geworden, dass sie – ähnlich wie Facebook und Google bei den sozialen Medien – die Konkurrenz zu erdrücken droht. «Der Graben zwischen der ‹Times› und dem Rest der Branche ist riesig und wächst. Sie hat viele Leute absorbiert, die angetreten waren, gegen sie anzukämpfen.»
Folge: Die Meinungsvielfalt wird limitiert. «Die politischen und kulturellen Debatten werden nicht mehr zwischen verschiedenen Zeitungen ausgetragen, sondern nur noch im Innern der Zeitung.» 2016 schon hatte Jim VandeHei, Gründer der Politplattform «Axios», befürchtet, «dass die ‹Times› zu einem Monopol wird. Sie wird grösser und grösser, und niemand sonst wird überleben.»
«Der Schwanz wedelt den Hund, ist aber auch der Hund selber.»
Wie stark die Sogwirkung geworden ist, zeigt sich daran, dass Topmanager von «Gawker», «Recode» und «Quartz» sowie mehrere Reporter von «Politico» auf ihre Seite gewechselt haben. Mehr und mehr erscheinen deshalb einzelne Ressorts der «Times» wie Kopien von digitalen Herausforderern wie «Politico» oder «Gawker». Dies aber sei ein Problem für kleinere Konkurrenten, sagt Janice Min, die den «Hollywood Reporter» zur alten Grösse zurückführen will. Die «Times» sei wie Netflix für die Filmindustrie. «Der Schwanz wedelt den Hund, ist aber auch der Hund selber.»
Über 5 Millionen Digital-Abos
Zwar sucht die Zeitung nach Lösungen, um schwächeren Blättern zu helfen. Doch wie Google und Facebook mit ihren bescheidenen Hilfsgeldern für Lokalzeitungen bleibt auch die ‹Times› sich selber am nächsten. «Es ist wie im Flugzeug», sagt Thomson, «man setzt die Sauerstoffmaske zuerst selber auf, bevor man anderen hilft.» Der wirtschaftliche Erfolg gibt ihm recht. Die Zeitung schraubte die Abonnentenzahl in den ersten vier Monaten dieses Jahres auf über sechs Millionen hoch. Zwar weist die japanische Tageszeitung «Yomiuri Shimbun» mehr als acht Millionen Abonnenten aus, doch ist sie auf den Heimmarkt limitiert, und das Wachstum ist bedeutend kleiner.
Die «Times» konnte dieses Jahr mehr als 600’000 zahlende Leserinnen und Leser gewinnen und zählt mehr als fünf Millionen Digitalabonnenten. Ein Hauptgrund: Sie liess für die Corona-Berichterstattung die Bezahlschranke fallen, was dazu führte, dass diese anfänglichen Gratisleser en masse ein Abo bestellten.
Der Zulauf hatte sich schon seit der Trump-Wahl abgezeichnet, da die «Times» zusammen mit der «Washington Post» als Einzige in der Lage war, von Anfang an die Dunkelkammern der Regierung auszuleuchten und den demokratischen Diskurs zu führen, den der Präsident ersticken wollte. Die Kabelfernsehstationen stützen ihr Angebot inzwischen oft auf die «Times» und die «Post». Reporter beider Zeitungen treten jeden Abend am Bildschirm auf. Beides verschafft ihnen zusätzliches Prestige.
«Die ‹Times› hat dem Rest der Branche den Weg zum Erfolg gewiesen.»
Das unbedingte Bekenntnis der Verleger zum Journalismus erlaubte, die Redaktion seit 2016 um 400 auf 1700 Festangestellte auszubauen. Andere hoffen, sich anschliessen zu können. «Die ‹Times› hat dem Rest der Branche den Weg zum Erfolg gewiesen», sagt «Boston Globe»-Chefredaktor Brian McGrory. Sein Blatt gewann dieses Jahr 100’000 neue Leser hinzu.
Wie schlimm es für viele andere aber aussieht, zeigt die Gannett Corporation, Verlegerin von 250 Lokalblättern. Ihr Börsenwert ist seit der Trump-Wahl von 2,2 Milliarden auf magere 147 Millionen Dollar geschrumpft, während die «Times» ihren Wert um das Vierfache steigerte und nahezu wieder den Rekordstand von 2002, vor dem Kollaps der Zeitungsbranche, erreicht hat.
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