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Thriller über Big Data
«KI ist keine Technologie, die wir brauchen»

«Ich habe mit dem Teufel gesprochen», sagt der international bekannte Drehbuchautor Anthony McCarten.
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Wo würden Sie sich vor der digitalen Überwachung verstecken, um ihre Privatsphäre zu schützen? Im Schrank? Oder im Wald? Diese Frage stellt Anthony McCarten an den Anfang seines Thrillers «Going Zero». Zehn Kandidaten, davon fünf Laien und fünf Sicherheitsexperten, wurden von der CIA für ein Experiment ausgewählt. Wem es gelingt, 30 Tage unauffindbar zu bleiben, erhält 3 Millionen Dollar.

Viel Geld für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer – aber gar nichts für die involvierten Konzerne, für die ein Riesendeal in Aussicht steht. Klar, gemütlich wird das bezüglich – Achtung: Triggerwort! – Überwachungs­kapitalismus sicher nicht.

Zum ersten Mal überhaupt soll jetzt ein privater Social-Media-Konzern mit dem amerikanischen Staat zusammenarbeiten und auf Ressourcen von FBI, CIA und NSA zurückgreifen können. Die Kandidaten bekommen zwei Stunden Vorsprung, um unterzutauchen. Smartphone weg, Kreditkarte weg, alles weg, was einen digitalen Fingerabdruck im Internet hinterlässt. 

Dann beginnt die Jagd. Auf der einen Seite Cy Baxter, Techmilliardär und schmieriger Typ, und auf der anderen Seite die unberechenbarste Kandidatin: Bibliothekarin Kaitlyn, von allen und sich selbst völlig unterschätzt. Sie verhält sich geschickter, als ihre Daten erahnen lassen. Das bringt Durcheinander ins Experiment. Ob es der Frau gelingt, sich im Kampf gegen die Konzerne unsichtbar zu machen?

Die Fiktion im Wettrennen mit der Wissenschaft

Zurück zu Anthony McCarten. Wo würde sich der 62-jährige, gebürtige Neuseeländer, verstecken? Zu Hause. Und dort eine falsche Wand einbauen. «Dahinter eine mobile Toilette und ein kleiner Kühlschrank voller Bier.» Das sei wohl die dümmste Idee, sagt der Autor beim Treffen in Zürich und lacht. Er sei selbst ein absoluter «Zero» und nutze nichts, was nach 2000 erfunden wurde. Auf seinem Smartphone hat er nur wenige Apps. Die sozialen Medien meidet er konsequent. Für sein neues Buch verbrachte er aber viel Zeit im Netz. Dort, wo er sonst nicht sein möchte. «Ja, ich habe mit dem Teufel gesprochen.»

Die Idee, dass sich unabhängige Superfirmen mit sozialen Netzwerken treffen, hat ihn fasziniert. Das Szenario, dass sie dabei ausgeklügelt und schnell seien und ihre Technologie so weiterentwickeln, dass sie die traditionelle Staatsmacht in Bezug auf das Sammeln von Informationen durch den Staat übertreffen, sei jetzt noch reine Fiktion. «Aber es ist unvermeidlich, weil es nicht sein kann, dass Privatpersonen über weitaus mehr nachrichtendienstliche Befugnisse verfügen als der Staat.»

McCarten musste während der Arbeit an «Going Zero», 2016 hat er angefangen, ständig die Fiktion mit der wissenschaftlichen Wirklichkeit rund um Big Data abgleichen. «Ich hatte vor, die Geschichte fünf Jahre in der Zukunft spielen zu lassen. Aber die Technologie war schneller. Jetzt, wo das Buch erschienen ist, spielt meine Geschichte vielleicht noch fünf Minuten in der Zukunft.» Der Abstand zwischen uns und der Technologie werde immer grösser. Wenn wir sie nicht dazu brächten, uns zu dienen, bestehe die Gefahr, dass wir uns der Technologie schon bald unterordneten.

«Als Mitglied der Gewerkschaft Writers Guild of America muss ich mit allen Schreibarbeiten für Film und Fernsehen aussetzen.»

Anthony McCarten, Drehbuchautor

Neben der Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft gläserner Menschen ist im Leben von McCarten etwas anderes gerade drängender. In Hollywood streiken derzeit die Drehbuchautoren. «Mich betrifft es sehr direkt, weil ich Mitglied der Gewerkschaft Writers Guild of America bin und mit allen Schreibarbeiten für Film und Fernsehen aussetzen muss.» Im Wesentlichen gehe es um bessere Arbeitsbedingungen. Die Serie «Stranger Things» hat ihre Produktion bereits gestoppt, und US-amerikanische Talkshows wie «Jimmy Kimmel Live!», «Late Show With Stephen Colbert» oder «Tonight Show» mit Jimmy Fallon werden nicht mehr ausgestrahlt.

«Wir sind die Basis der gesamten Industrie», sagt McCarten – ohne Drehbücher keine Filme. «Nur werden wir am wenigsten respektiert, das öffentliche Interesse an uns ist am geringsten. Wir leben im Schatten der Stars.» Es sei aber ein gnädiger Schatten, findet Anthony McCarten und ist daher froh, dass er im Gegensatz zu seinen Freunden, die teils Superstars sind, nicht auf der Strasse erkannt wird.

Forderung nach Regulierung von künstlicher Intelligenz

Der Streik soll aber nicht nur den Kampf um bessere Anstellungsverhältnisse ermöglichen, sondern auch zeigen, wie stark die Autoren von der künstlichen Intelligenz (KI) bedroht werden. McCarten, der sich die letzten Jahre für sein Buch eingehend mit den Schattenseiten der Digitalisierung beschäftigt hat, möchte nicht wegdiskutieren, dass alle sprachlichen Künste durch KI existenziell bedroht seien. «Sie kann viel mehr als nur Text erzeugen. Man kann ihr sagen: Gib mir eine Handlung. Dafür müssen wir lediglich die Parameter der Geschichte festlegen.» Anthony McCarten spricht darüber mit klarer Stimme und so, als sei die Party, bei der man die technischen Errungenschaften feierte, längst vorbei.

«Wir müssen erkennen, dass es keine Technologie ist, um die wir gebeten haben oder die wir brauchen.» Alles, was durch KI geschaffen werde, müsse als KI identifiziert werden und dürfe nicht mit Menschen konkurrieren. «Wir brauchen eine Regulierung, und zwar schnell.» Unterdessen würden auch hochrangige Persönlichkeiten, die KI entwickelt haben, und andere, die KI finanzieren, ihre Hände hochheben und sagen, dass sie eine staatliche Regulierung bräuchten.

Achtung: «Alle Cookies akzeptieren», sicher?

In seinem Buch läuft alles in die entgegengesetzte Richtung von Regulierung. Es ist viel eher die Entfesselung der totalen Überwachung. In rasantem Tempo und schnellen Schnitten zwischen der Perspektive von Jägern und Gejagten sind wir mittendrin im Katz-und-Maus-Spiel. Der Autor überzeugt damit, wie er falsche Fährten legt und wie die Spannung über 400 Seiten nicht einbricht. Er musste jede Figur selbst jagen, um es uns plausibel zu erzählen – herausgekommen ist ein faszinierender und gleichermassen beklemmender Politthriller, dem man das eine oder andere Klischee in einer teils holzschnittartigen Figurenzeichnung verzeiht.

Es ist eines dieser Bücher, das Sie an einem Wochenende lesen, ungeachtet dessen, was auf Ihrem Smartphone und in den sozialen Medien passiert. Einen Tag später setzt dann die Wirkung ein: Sie sind wieder online und beginnen zu zögern, wenn man Sie beinahe überall bittet, auf «Alle Cookies akzeptieren» zu drücken und Ihre Privatsphäre teilweise aufzugeben.

Anthony McCarten: Going Zero. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Diogenes, Zürich 2023. 464 Seiten, ca. 34 Fr.