Vom Nationalspieler zum Koma-PatientenDer SUV traf ihn mit 85 km/h – wie Kevin Lötscher ins Leben zurückgefunden hat
Der Walliser war ein gefeierter Eishockeyspieler, dann veränderte ein schwerer Unfall alles. In seiner Biografie spricht er schonungslos über den Weg zurück, das Scheitern und seine Depression.

XIV.V.MMXI – so steht es tätowiert auf Kevin Lötschers Brustkorb, direkt unter seinem Herzen. 14. Mai 2011 – jenes Datum ist für ihn wie ein zweiter Geburtstag. Es ist der Tag, an dem ihm ein neues Leben geschenkt wurde. So erzählt es Lötscher in seiner eben erschienenen Biografie.
Doch an jenen schicksalsvollen Tag hat der Walliser keine Erinnerungen mehr. Sein erstes Leben endet auf einem Kieshaufen in Siders: bewusstlos, blutend aus Mund, Nase und Ohren. Auf einmal ist nichts mehr so, wie es einmal war – Lötscher, dieser hoffnungsvolle Eishockeyspieler, liegt im Koma.
Das Buch besticht durch seine Offenheit, die einem zuweilen nahegeht. Weil Lötscher tief blicken lässt. Er spricht schonungslos über seine Rehabilitation und das gescheiterte Comeback, aber auch über seine Depressionen und die Trennung von seiner Frau. Heute geht es dem 35-jährigen Vater von zwei Kindern gut. Er hat sich zum Ernährungsberater ausbilden lassen, ein eigenes Unternehmen gegründet und tritt als Referent auf. Aber bis er an diesen Punkt gelangt ist, dauerte es viele Jahre.
Auf das sportliche Highlight folgt der Schicksalsschlag
Im Mai 2011 ist Lötscher auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Mit starken Leistungen beim EHC Biel hat er sich einen Vertrag beim damaligen Branchenprimus SC Bern ergattert. Und der kräftige Flügel mit den feinen Händen macht sich daran, auch international für Aufsehen zu sorgen.
Erstmals wird er für eine Weltmeisterschaft aufgeboten und schiesst gegen die USA sogleich zwei Tore. Dadurch werden NHL-Scouts auf ihn aufmerksam, eine erste Anfrage für ein Sommercamp liegt vor. Sieht Lötscher sich heute Bilder von der WM an, kommt ihm das komisch vor. Weil er sich zwar erkennt, aber alles um dieses Turnier herum in seinem Kopf gelöscht ist.
Wenige Tage nach der WM feiert er mit Freunden im Wallis ausgelassen. Als die Gruppe am frühen Morgen weiterziehen will, wird Lötscher von einer stark alkoholisierten jungen Frau über den Haufen gefahren. Mit dem SUV ihres Vaters trifft sie ihn von hinten – mit fast 85 km/h. Er fliegt 30 Meter durch die Luft. Auf der Glasgow-Skala, welche die Schwere einer Schädel-Hirn-Verletzung vorgibt, wird Lötscher als 3 eingestuft. Je tiefer die Zahl, desto schlechter der Zustand. 3 ist die tiefste Stufe.
Der junge Mann, eben noch ein vor Kraft strotzender Spitzensportler, zeigt keinerlei motorische Reaktionen mehr. Neben dem schweren Schädel-Hirn-Trauma hat er drei angebrochene Wirbel, drei angebrochene Rippen und zwei kaputte Knie. Tagelang harren seine Angehörigen am Spitalbett aus. Über dieses Hoffen und Bangen erzählen sie in persönlichen Beiträgen im Buch eindrücklich.
Er muss alles neu lernen
Ebenso eindrücklich sind seine Erzählungen vom Weg zurück in die Normalität. Fast 20 Kilogramm verliert Lötscher im Koma. Schritt für Schritt muss er seinen Körper wieder aufbauen und vor allem an seinen kognitiven Fähigkeiten arbeiten. Physisch macht der damals 23-Jährige rasch Fortschritte, weshalb bald einmal der Wunsch reift, es nochmals als Profi zu versuchen.
Eishockey ist sein Leben, dieser Sport bedeutet ihm seit frühester Kindheit alles. Um dieses Comeback zu schaffen, lässt er nichts unversucht und reist gar in die USA, um sich von einem Spezialisten behandeln zu lassen.
Mit dem damaligen SCB-Sportchef Sven Leuenberger unternimmt er erste Schritte auf dem Eis. Aber es zeigt sich, wie schwierig die Rückkehr werden sollte. Denn: Durch den Unfall ist Lötschers rechte Seite eingeschränkt. Doch Eishockey ist eine Sportart, die enorme Anforderungen an den Athleten stellt: Er muss schnell Schlittschuh laufen können, seine Umgebung stets im Blick haben und dabei in Sekundenbruchteilen Entscheidungen fällen. Das fiel Lötscher zuvor leicht – nun tut er sich damit äusserst schwer.

Bei seinem Ex-Club Biel erhält er nochmals eine Chance, doch da erkennt er, dass es nicht mehr wie gewünscht vorwärtsgeht. Der Versuch, es anschliessend eine Liga tiefer zu schaffen, scheitert ebenso. Er muss sich eingestehen, dass er nicht mehr der Spieler ist, der er einmal war. Also zieht er den Schlussstrich – und verliert den Boden unter den Füssen.
Er ist ein Getriebener, der sich betäuben muss
Alles, was ihn geprägt und ausgezeichnet hat, ist damit weg. Das Selbstwertgefühl geht flöten. Um sich zu betäuben, beginnt Lötscher zu kiffen, der Frust nimmt zu, und diesen bekommt in erster Linie seine Partnerin Yvonne ab, die Mutter seiner beiden Söhne. Die Ehe geht schliesslich in die Brüche. Davon erzählt auch sie in einem persönlichen Beitrag.
Längst rät ihm das Umfeld, professionelle Hilfe zu suchen, aber dafür ist sein Stolz zu gross. Und noch grösser ist die Unzufriedenheit. Er arbeitet als Gärtner und später als Verkäufer in einem Hockeyshop, doch an beidem verliert er rasch die Freude. Lötscher ist ein Getriebener – und er erkennt schliesslich, dass er sich doch Hilfe suchen muss.
Über Monate besucht er wöchentlich eine Psychologin, arbeitet so alles auf und findet wieder in die Spur. Er sagt: «Wenn ich Menschen meine Geschichte erzähle, relativieren sich vielleicht deren eigene Probleme, sie ändern ihre Ansichten oder lernen, wieder mehr Lebensfreude zu verspüren. Wichtig ist dabei für mich, dass ich wieder an mich glaube und dies auch ausstrahle. Ohne den Glauben an mich selbst könnte ich meine Message nicht in die Welt hinaustragen.»

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