Zweiter Profisieg in HuyKeiner klettert wie Hirschi
Der Berner gewinnt nach einer Tour-Etappe und WM-Bronze den Flèche Wallone. Es ist sein nächstes Ausrufezeichen, denn an der Mur de Huy triumphieren nur die Grossen.
Den Flèche Wallonne gewinnt niemand aus Zufall, sondern mit purer Pedalkraft. Entsprechend gross ist die Leistung, die Marc Hirschi am späten Mittwochnachmittag gelingt. Rund 80 Meter vor dem Ziel tritt er an, einzig den Kanadier Michael Woods hat er noch vor sich. Ein paar Pedalumdrehungen später ist es bereits vollbracht: Hirschi spürt, dass er die Entscheidung herbeigeführt hat. Statt weiter starr die Ziellinie anzuvisieren, schaut er sich um und sieht, dass er einige Meter Vorsprung hat und die Ziellinie mit erhobenen Händen überqueren kann.
Oben erzählt er dann so abgeklärt, wie er vorhin diesen Sieg erklettert hat, wie sich alles zugetragen hat: «Als die Steigung begann, war ich nervös – du weisst nie, wie die Beine reagieren werden, weil es sehr schmerzhaft wird. Du musst stark sein im Kopf, um die Schmerzen zu überstehen, das Laktat zu ignorieren. Dann wurde es supersteil. Ich blieb ganz vorne, versuchte, nicht zu früh anzutreten. Und dann, mit rund 100 Metern, trat ich an. Ich weiss, es schaut einfach aus. Und ja, wenn die Beine gut sind, ist es auch nicht so schwer.»
So steil, dass der Hobbyfahrer fast vom Rad fiele
Kaum ein anderes Rennen verläuft nach einem so klaren Schema – und liefert trotzdem Jahr für Jahr ein aufregendes Finale. Das liegt an der Mur de Huy, diesem letzten, unglaublich steilen Kilometer, der von der Altstadt unten an der Maas hoch zum Ziel führt. Auf 1300 Metern gilt es 128 Höhenmeter zu überwinden. Das ergibt eine durchschnittliche Steigung von 10 Prozent – was auch für Freizeitvelofahrer machbar ist. Nur: Die Strasse steigt nicht regelmässig, sondern wird steil und steiler und zuletzt so steil, dass der Hobbyfahrer fast vom Rad fiele angesichts über 20 Prozent Neigung.
Hirschi staunte vor einem Jahr erstmals, als er die Mur auf einer Trainingsfahrt hochfuhr. Rennmässig tut er es am Mittwoch zum ersten Mal. Ihn kümmert das nicht, schliesslich scheint er nun seit über einem Monat auf einer Topform-Wolke zu schweben.
Es sind keine Entwicklungsschritte, die Marc Hirschi seither gemacht hat. Es sind Entwicklungssätze.
Manchmal lohnt sich der Blick auf den Kalender. Etwa in Hirschis Fall: Er ist innert eines Monats vom hochtalentierten Nachwuchsfahrer zu einem der derzeit stärksten Finisseure im ganzen Radsport geworden. Er hat an der Tour de France eine Etappe gewonnen und die Auszeichnung als kämpferischster Fahrer des Rennens erhalten. Er sprintete an der WM im Strassenrennen aus einer Gruppe heraus zu Bronze, in der jeder andere Fahrer ein deutlich grösseres Palmares vorweisen konnte.
Hirschi hat sich vom Fahrer, dem die bekannten Grössen für seine ersten Exploits anerkennend auf die Schulter klopften, zum Fahrer entwickelt, der von genau diesen als Konkurrent ernst genommen wird.
Mit Weltmeister Julian Alaphilippe und Altmeister Alejandro Valverde fehlen jene beiden Fahrer, die den Flèche Wallonne in den vergangenen sechs Jahren mit ihren Siegen geprägt haben. Doch das schmälert Hirschis Erfolg nicht. Erst recht nicht, wenn die Zeiten für diesen brutalen Schlusskilometer verglichen werden: 2:47 Minuten braucht Hirschi laut den Statistikern dafür – eine Topzeit. Valverde war nur 2014 noch ein paar Sekunden schneller gewesen.
Wie schnell Ferdy Kübler bei seinen Siegen 1951 und 52 gekraxelt war, ist nicht bekannt. Der Adliswiler war zuvor der einzige Schweizer Sieger des Halbklassikers gewesen. Dieser findet gewöhnlich am Mittwoch zwischen Amstel Gold Race und Lüttich–Bastogne–Lüttich statt. Im Corona-Radjahr wurde die Reihenfolge geändert – gestern gekürzt. Lüttich bildet am Sonntag den Abschluss der Ardennenklassiker, das Gold Race am übernächsten Sonntag wurde wegen verschärften Corona-Massnahmen in den Niederlanden abgesagt.
Am Sonntag sieht Albasini nur zwei Topfavoriten
Bevor Hirschi kam, sah und siegte, hatte Michael Albasini in Huy mehrfach am Erfolg geschnuppert, 2012 und 15 stand er auf dem Podest. Gestern lagen sie 500 Meter vor dem Ziel noch gleichauf, Albasini kam dort aber 59 Sekunden nach Hirschi an. «Unglaublich, was der Junge in den vergangenen Wochen hingezaubert hat», sagt Albasini, der am Sonntag sein letztes Profirennen fährt – und Hirschi auch da in sehr prominenter Rolle sieht: «Fünf-Sterne-Favoriten gibt es dort nur zwei: Alaphilippe und ihn.»
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