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Antisemitismus an Zürcher Schulen
«Sag nicht, dass du Jude bist, sonst kommst du dran»

Zürich, le 2 juin 2010. Ecole juive Noam (Jüdische Schule Noam). © odile meylan
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Im Fall von Simeon verging keine Woche, bis er angegangen wurde, weil er Jude ist. Der 13-Jährige startete letzten Sommer, nach sechs Jahren an einer jüdischen Privatschule, an einer öffentlichen Schule in der Stadt Zürich in die Oberstufe. Simeon, der in einer nicht religiösen jüdischen Familie aufwuchs, heisst eigentlich anders und wird in diesem Artikel zu seinem Schutz anonymisiert.

An der Zürcher Schule, in die er kam, gibt es nur einen Jungen, der wegen seiner Kippa als Jude erkennbar ist. Dieser warnte Simeon gleich zu Beginn: «Sag nicht, dass du Jude bist, sonst kommst du dran.» So schildert es Simeons Mutter.

«Meine Grossmutter wurde von euch getötet»

Doch schon in der ersten Woche hätten andere Kinder Simeon wegen seines Namens angemacht. «Komm, gib zu, dass du jüdisch bist», habe ein muslimischer Mitschüler immer wieder geraunt – als wäre es ein Verbrechen, jüdisch zu sein.

Als Simeon dann am vierten Schultag erzählte, dass er Jude ist, seien die unmittelbaren Reaktionen «Free Palestine»-Rufe gewesen. Einer habe gesagt: «Meine Grossmutter wurde von euch Israelis getötet.» Simeon ist Schweizer und nicht Israeli.

Später tätschelten ihn Einzelne auf den Hinterkopf, um ihn herunterzumachen. Er wurde angerempelt, es kamen Sprüche wie: «Wie gross sind die Gaskammern? Scheeeeerz.» Ein Junge spielte ihm ein völkisches Lied vor, ein anderer nannte Simeon einen «Scheissjuden».

Der misslungene Start an seiner neuen Schule setzte Simeon zu. Er zog sich zurück, verliess das Haus nicht mehr. Nach sieben Wochen zogen die Eltern die Reissleine und meldeten ihn für eine Privatschule an. Dies alles geschah noch vor dem Angriff der Hamas auf Israel und dem Einmarsch der israelischen Armee in Gaza.

Kantonsrat fordert geschlossen mehr Massnahmen

«Das ist leider nur einer von sehr vielen Fällen von Antisemitismus an Schulen», sagt die Zürcher FDP-Kantonsrätin Sonja Rueff-Frenkel. Sie hat am Montag deshalb ein dringliches Postulat im Parlament eingereicht. Der Regierungsrat soll darlegen, wie an den Schulen Aufklärungsarbeit betrieben werden kann, um den wachsenden Antisemitismus und Rassismus zu begegnen.

Nach der Messerattacke vom 2. März, bei der ein 15-Jähriger in Zürich einen jüdischen Mann schwer verletzte, ist die Betroffenheit auch im Kantonsparlament gross. Sämtliche Fraktionen von links bis rechts tragen Rueff-Frenkels Postulat mit. «Offen gelebter Antisemitismus ist die Spitze des Eisberges, der auf Vorurteilen und Stigmatisierung beruht», heisst es im Vorstoss. Ein gutes Mittel dagegen sei, dass Jugendliche mit anderen Religionen und Kulturen in Berührung kommen.

Gerade weil es immer weniger Zeitzeugen der Schoah gibt, welche die Schulen besuchen können, seien ähnliche Begegnungen wichtig. Etwa beim Bildungsprogramm Likrat des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, in dem jüdische Jugendliche Schulen besuchen und im Dialog auf Augenhöhe Vorurteile und Stereotypen abgebaut werden sollen.

«Das sind nicht nur Einzelfälle»

Seit der Hamas-Attacke vom 7. Oktober hätten die antisemitischen Vorfälle zugenommen, sagt Sonja Rueff-Frenkel. Sie kennt viele Beispiele, vor allem solche aus der Stadt Zürich, wo die meisten orthodoxen und säkularen Jüdinnen und Juden leben. Darum kann die Kantonsrätin nur den Kopf schütteln, wenn das Stadtzürcher Schuldepartement mitteilt, bis anhin seien lediglich vereinzelt antisemitische Vorfälle unter Schulkindern gemeldet worden.

Simeons Mutter weiss wie Rueff-Frenkel von anderen Betroffenen und sagt: «Das sind nicht nur Einzelfälle.» Die Mutter wandte sich mehrfach an den Klassenlehrer und die Schulleitung. Der Lehrer habe die Vorfälle ernst genommen, habe aber zu wenig entschlossen gewirkt, findet sie. Die Massnahmen hätten vor allem aus einem Gespräch mit Simeon und einem seiner Peiniger bestanden.

Erst der Schulsozialarbeiter habe angemessen reagiert. «Er sagte uns, dass Antisemitismus in den sozialen Medien ein riesiges Problem sei. Davon hatten wir ja keine Ahnung.» Bis zum Schuldepartement oder zur Schulpflege gingen Simeons Eltern nicht, deshalb vermutet die Mutter, dass die Behörden von vielen solchen antisemitischen Vorfällen gar nichts wissen.

Ähnlich schätzt die Situation Thomas Patzko ein, der eine Whatsapp-Chatgruppe jüdischer Eltern moderiert. «Viele Vorfälle wären strafrechtlich relevant. Aber viele Eltern scheuen eine Anzeige, weil dadurch ihre Kinder identifizierbar würden.»

Hitlergruss beim Fussballtraining

Vor seinem Eintritt in die öffentliche Schule hat Simeon einmal Antisemitismus am eigenen Leib erfahren. Im Fussballclub zeigte ihm ein Kind den Hitlergruss und erzählte Juden-Witze. Ein unbeteiligter, muslimischer Teamkollege reagierte für Simeon und ging zum Trainer.

Antisemitismus sei kein Problem der Schulen, sondern ein gesellschaftliches Problem, sagt seine Mutter deshalb. «Wir müssen darüber reden, woher er kommt.» In ihrem Umfeld seien nicht ausschliesslich, aber vor allem muslimische Kinder aufgefallen. «Ich finde, darüber müssen wir reden können, ohne alle Muslime dafür anzuschwärzen. Die grosse Mehrheit ist ja super integriert.»

Heute geht es Simeon wieder gut. Seine Mutter bedrückt es aber, dass seine Erfahrungen mit dem nicht jüdischen Umfeld bisher so negativ ausfielen. «Das hat auf ihn abgefärbt.» Simeon kennt auch einen Jungen, der von einem muslimischen Mitschüler mit dem Tod bedroht wurde. Der «Blick» hat seinen Fall am Wochenende geschildert. «Wenn der Unterricht vorbei ist, gebe ich dir zehn Sekunden, um zu rennen – dann bist du tot», soll ihm gedroht worden sein, weil er Jude ist.

Simeons Mutter begrüsst es, dass Sonja Rueff-Frenkels Vorstoss sich nicht auf Antisemitismus beschränkt, sondern auch Rassismus im Allgemeinen anspricht, weil die Probleme in der Gesellschaft gross seien. «Ob ein solcher Aktionsplan etwas bringt, müssen die Expertinnen und Experten beurteilen. Ich bin mittlerweile an dem Punkt, dass ich sage: Hauptsache, es geschieht etwas.»