Pro und KontraKann man ein Klassentreffen einfach schwänzen?
Man hat Jahre miteinander die Schulbank gedrückt, Erinnerungen geteilt und Prüfungen überstanden – und jetzt steht das Klassentreffen an. Darf man diesem fernbleiben? Unsere Autoren wägen ab.
- Muss man zu einem Klassentreffen hingehen?
- Unsere beiden Autoren wägen ab.
- Solche Treffen seien keine Verpflichtung und sollten von Herzen gewollt sein, sagt der eine.
- Man könne sich solchen Treffen nicht einfach entziehen, sagt der andere.
Ja: Die Schulpflicht erlischt mit dem Ende der Schulzeit. Danach darf jeder selbst entscheiden, was er tun möchte.
Die Antwort auf diese Frage ist schnell gegeben: Ja! Niemand sollte zu einem Klassentreffen gehen, der das nicht aus vollem Herzen will. Zur Erinnerung: Die Schulpflicht erlischt mit dem Ende der Schulzeit und entlässt erwachsene Menschen in die Welt. Sie dürfen fortan selbst entscheiden, was gut für sie ist.
Natürlich ist es nett, wenn man die Organisatoren mit seiner Anwesenheit bei einem Klassentreffen unterstützt. Gerade dann, wenn man nicht zu den zehn Hanseln gehört, die sowieso immer da sind und die quasi das Fundament eines in alle Winde verstreuten Jahrgangs bilden. So als verlorener Sohn oder mythische Gestalt nach dreissig Jahren plötzlich wieder aufzutauchen, bringt erst die rechte Würze in ein Klassentreffen, das ist klar. Aber auch dafür ist man nicht verantwortlich, und niemand ist verpflichtet, sich in regelmässigen Abständen zu zeigen und den ehemaligen Mitschülern Anschauungsmaterial zu liefern.
Die Dynamik eines solchen Treffens ist ja immer gleich: Diejenigen, die vermeintlich viel vorzuweisen und erreicht haben, kommen bereitwillig, und die, die sich in einem der üblichen Abfragegebiete (Familie? Job? Jung geblieben?) im Hintertreffen fühlen, zögern und wägen die Risiken ab: Lohnt sich der zu erwartende Dämpfer? Kann der eigene Schutzpanzer gerade einen Abend voll Ich-Performance und demonstrativem Glück der anderen gut aushalten? Oder hätte man hinterher eher lange an dem Ereignis zu kauen und fände vielleicht sogar die eigene Motivation oder das persönliche, kleine Glück nachhaltig torpediert?
Derlei kann man natürlich nicht vorhersagen, und meistens werden solche Termine auch weniger schrecklich, als man denkt. Aber wer sich seiner sozialen Resilienz gerade nicht ganz sicher ist, kann beim Klassentreffen auch einfach fehlen. Ohne Angabe von Gründen, ohne vorgeschobene Ausrede, ohne schlechtes Gewissen. Es gibt genügend Termine im Jahr, bei denen man es sich nicht so leicht machen kann und für die man seine Kräfte wirklich braucht.
Das bringt nur denjenigen etwas, die sich in Sentimentalität suhlen wollen
Meistens steht man mit der Handvoll Menschen, die einem aus dem Jahrgang am Herzen liegen, ja auch noch anderweitig in Kontakt und hat damit ziemlich genau das beibehalten, was man auch die ganze aktive Schulzeit über gemacht hat – aus der Zufallsgemeinschaft diejenigen ausgesucht, die einem guttun. Dass man zwanzig Jahre später plötzlich mit allen anderen einen fröhlichen Abend verbringen soll, mit Menschen also, mit denen man lange nichts mehr gemein und genau deshalb vielleicht nie jemals einen Satz gewechselt hat, ist eigentlich eine absurde Prämisse. Ja, man kann sich gegenseitig ein paar alte Lehrernamen in den Mund legen und lang vergessene Liebeleien rekonstruieren, aber das bringt nur Menschen etwas, die sich in Sentimentalität suhlen wollen.
Neue oder restaurierte Freundschaften ergeben sich aus diesen Treffen jedenfalls recht selten, so was erschöpft sich am Ende des Abends in immer gleichen frommen Bekundungen wie: «Wenn du mal in der Gegend bist, unbedingt bei mir klingeln!» Oder auch: «Hab ja jetzt deine Nummer, dann auf ganz bald.» Am nächsten Morgen und mit doppeltem Kater (einmal vom Wein, einmal von den ganzen obergärigen Anekdoten), stellt man fest, dass das Leben, das man seit zwanzig oder vierzig Jahren führt, eigentlich sehr gut ohne diese aufgewärmten Personalien auskommt.
Gemeinhin wird von jenen Menschen, die nicht zum Klassentreffen erscheinen, angenommen, dass sie doch bestimmt etwas zu verbergen haben. Das gehässige Narrativ soll an dieser Stelle mal ins Gegenteil gesetzt werden – sehr wahrscheinlich haben sie an dem Abend einfach etwas Besseres vor.
Nein: Es ist doch beruhigend, dass manche Mitschüler sich nicht verändert haben. Und andere lernt man ganz neu kennen.
Natürlich war ich nervös vor unserem Jahrgangstreffen. Solche Treffen sind Zusammenkünfte von Menschen, die früher mal gleich alt waren und die man heute nicht mehr wiedererkennt. Da muss man beim Small Talk die Contenance wahren, obwohl einem permanent irgendwelche Dinge durch den Kopf schiessen. Meist irgendwas mit Liebeszeug und Eifersucht. Nur, dass jetzt alle Falten haben. Sobald die Jahreszahlen der Jubiläen, die es zu feiern gilt, zweistellig werden, so heisst es, sollte man lieber zu Hause bleiben.
Ich bin dann aber doch hingefahren, zum 35-Jährigen, und siehe da: Der Frontmann der Schülerband sah immer noch so aus wie früher. Der Sohn vom Sargtischler wirkte selbst im Jahr 2024 wieder so ausgeglichen und ruhig wie einst, als er bei der Schulaufführung der «Dreigroschenoper» noch die Tuba blies. Der Frauenschwarm von damals war zwar etwas aufgedunsen, hatte aber schon wieder eine Neue. Das Beruhigende an Klassentreffen ist ja, dass sich wesentliche Charakterzüge nie ändern.
Wobei es im Laufe des Abends dann schon genervt hat, dass ausgerechnet der Chrissi wieder die Musik so laut aufgedreht hat, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Obwohl der Chrissi diesmal schon einsah, dass das keine gute Idee war, weil man sich ja nur noch so selten sieht.
Auf ein Wiedersehen mit Helena, in die ich mal sehr verliebt war, hatte ich mich auch gefreut. Doch Helena kam nicht. Sie kommt nie zu solchen Treffen. Irgendwie scheint sie die Achtziger nicht so gut in Erinnerung behalten zu haben wie ich. Kein Wunder, als Kind einer griechischen Einwandererfamilie wohnte Helena bei uns im Dorf mitten im Industriegebiet in der Hochwasserzone und ist nach der Matur sofort weggezogen. Seitdem weiss ich nur noch von irgendwelchen Profilbildern im Netz, wie sie aussieht. Dieses nette Lachen aber hat sie immer noch. Wieso meldet sie sich nie?
Immerhin war Jojo da, der wieder sehr viele persönliche Probleme hatte und mit mir darüber reden wollte. Obwohl mich das jedes Mal wundert, weil der Jojo seit Jahren einen Beruf hat, in dem er Menschen, die Probleme haben, hilft.
Eine gute Gelegenheit, alte Vorurteile zu überdenken
Ob auch ich vom ein oder anderen nicht erkannt wurde? Die Ringe unter meinen Augen, die hängenden Wangen, der müde Blick – das macht die Identifikation doch schwer. Aber einen Schönheitschirurgen hatten auch die anderen noch nicht kontaktiert. Das wäre mir aufgefallen. Auf der Tanzfläche tummelte sich eher so eine wilde Mischung. Wir sind zusammen alt geworden, aber ein bunter Haufen geblieben. Auch eine schöne Gewissheit.
Klar, diese blondierte Tussi, die angeblich auch mal mit mir die Matura gemacht hat und sich während des Abends wirklich auf jedes Selfie drängte, die war schon recht anstrengend. Über das Wiedersehen mit Harald aber habe ich mich echt gefreut. Was haben wir uns früher immer über ihn lustig gemacht, weil er so schrecklich zappelig und kindisch war, Jojo würde sagen: ADHS. Aber jetzt, nach seinem jahrelangen Militäreinsatz in Afghanistan, waren es eher wir, die uns recht kindisch vorkamen. Klassentreffen sind eine gute Gelegenheit, alte Vorurteile zu überdenken.
Am frühen Morgen dann, aber daran kann ich mich gar nicht mehr richtig erinnern, erzählte mir Jojo noch, dass sein Vater gar nicht sein Vater sei, aber das habe er erst jetzt herausgefunden, und das sei echt schlimm für ihn. Da habe ich mir dann schnell noch ein Bier bestellt und mit ihm und den anderen aufs Leben angestossen. Weil: Der Frauenschwarm war da schon wieder weg und Helena immer noch nicht da. Vielleicht kommt sie ja beim nächsten Mal, wobei man auch sagen muss: Den ein oder anderen von uns hat er eh schon gepackt, der Tod.
Vor dem Tod kann man genauso wenig fliehen wie vor seinen Erinnerungen. Deshalb kann man ruhig auch mal zu so einem Klassentreffen fahren.
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