Über 30 Jahre nach der TatBerner Gericht hebt Urteil in Vergewaltigungsfall auf
Spektakuläre Wende: Wegen Verfahrensfehlern kippt das Berner Regionalgericht ein altes Urteil gegen den brasilianischen Fussballtrainer Alexi Stival.
Die Meldung mutete zuerst wie ein schlechter Witz an: Der brasilianische Fussballtrainer Alexi Stival, auch schlicht «Cuca» genannt, sei ein Opfer der Schweizer Justiz geworden. Ein Berner Gericht habe dieser Tage ein über 30 Jahre altes Urteil gegen den 60-Jährigen wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen aufgehoben. Nicht, weil seine Unschuld nachträglich bewiesen werden konnte, sondern aufgrund von Verfahrensfehlern.
Darüber berichten seit Mittwoch zahlreiche brasilianische Medien. Sie beziehen sich auf eine Stellungnahme von Alexi Stival und seiner Entourage. Einzelne Onlinemedien fügen ihren Berichten auch die entsprechende schriftliche Verfügung des Regionalgerichts Bern-Mittelland vom 28. Dezember bei.
Auf Anfrage bestätigt das Berner Regionalgericht die Echtheit der im Internet kursierenden zweiseitigen Verfügung. Weiter bestätigt es, was mehrere brasilianische Medien vermelden: Das Urteil aus dem Jahr 1989 wird aufgehoben, weil die damalige Gerichtsverhandlung nicht in Abwesenheit des beschuldigten Stival und dessen Anwalt hätte durchgeführt werden dürfen. Da die Verfügung noch nicht rechtskräftig sei, will sich das Berner Regionalgericht nicht weiter zum Fall äussern.
Straftat gilt als verjährt
Statt Fake News also ein handfester Skandal. Eingeleitet wurde diese spektakuläre Kehrtwende letzten Frühling. Damals holte Alexi Stival wieder einmal die Vergangenheit ein, dieses Mal jedoch heftiger denn je. Grund war seine Verpflichtung beim brasilianischen Fussballclub Corinthians São Paulo. Wegen der einstigen Verurteilung wegen Vergewaltigung protestierten etliche Fans sowie die Frauenmannschaft des Clubs gegen dessen Anstellung, woraufhin Stival zurücktrat.
Gleichzeitig reichten seine Anwälte beim Berner Regionalgericht ein Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens ein, da Stival damals nicht die Möglichkeit hatte, sich vor Gericht zu verteidigen. Dies sei bei dem schweren Vorwurf einer Vergewaltigung zwingend. Letzten November stützte das Regionalgericht diese Sicht und bewilligte das Gesuch.
Zu einem neuerlichen Prozess kommt es dennoch nicht, da das Gericht nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft das Verfahren umgehend wieder einstellte. Der Grund: Die Straftat gilt mittlerweile als verjährt. Um ihn für seine neu angefallenen Anwaltskosten zu entschädigen, erhält Stival vom Gericht zudem 9550 Franken zugesprochen. Dies geht aus der Verfügung von letzter Woche hervor.
Rein rechtlich gesehen kommt die Einstellung des Verfahrens einem Freispruch gleich. Der einstige Fussballer kann sich somit als Justizopfer darstellen. In einer Stellungnahme vom Mittwoch zeigte er sich bereits «erleichtert» über den Entscheid aus Bern. Was dabei zu vergessen gehen droht: Das Regionalgericht hat bloss über Formalitäten entschieden, nicht jedoch über die Schuldfrage. Entlastet wird Stival dadurch nicht. Justizexperten sprechen deshalb von einem «Freispruch zweiter Klasse».
Was interessant ist: Das Regionalgericht hat weiter beschlossen, dass Stival seinen Anteil der Verfahrenskosten aus dem Jahr 1989 gleichwohl bezahlen muss – 3450 Franken betragen diese. Eine von ihm beantragte, nachträgliche Genugtuung für die damals 30-tägige Untersuchungshaft verwehrt ihm das Gericht. «Das deutet daraufhin, dass die Justiz inhaltlich an den Vorwürfen gegenüber Alexi Stival festhält», sagt Jonas Weber, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern.
Dass ein Urteil wegen grober Verfahrensfehler nach über 30 Jahren gekippt wird, ist laut ihm zwar selten, aber durchaus möglich. Ohne detaillierte Aktenkenntnisse möchte sich Weber allerdings nicht weiter zum Gerichtsentscheid äussern. So oder so: Die späte Wende in dem Fall wirft ein äusserst schlechtes Licht auf die Berner Justiz – namentlich auf das Vorgehen von Staatsanwaltschaft und Gericht beim Prozess Ende der 80er-Jahre.
Vorwürfe jahrelang kleingeredet
Das Ganze geht zurück auf den 30. Juli 1987, als in Bern der damals populäre Philips-Cup stattfand. Als Gastteam war auch Grêmio Porto Alegre aus Brasilien dabei – und damit auch der 24-jährige Stürmer Alexi Stival. Dieser soll zusammen mit drei Mitspielern ein 13-jähriges Mädchen mit in ein Hotelzimmer genommen und dort vergewaltigt haben. Mit ging die Bernerin in der Hoffnung auf ein begehrtes Clubtrikot.
Noch am selben Abend verhaftete die Polizei die vier Fussballer. Nach 30 Tagen in Untersuchungshaft wurden sie gegen Kaution wieder auf freien Fuss gesetzt. Zum Prozess im August 1989 erschienen die Angeklagten wie gesagt nicht. Drei von ihnen – darunter Stival – wurden wegen «Nötigung» und «Unzucht mit Kindern» verurteilt. Allerdings bloss zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 15 Monaten, was aus heutiger Sicht in seiner Harmlosigkeit nur schwer nachvollziehbar scheint.
Die Indizien gegen Stival wogen schwer. So wurde etwa sein Sperma auf dem Körper des Mädchens nachgewiesen. Trotz all dem gelang es der Fussballlegende über all die Jahre, die damals rechtskräftige Verurteilung herunterzuspielen, wenn er damit konfrontiert wurde. 2021 meinte er an einer Pressekonferenz: «Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Es gab keine Vergewaltigung, wie manche sagen.» Danach war das Thema wieder vom Tisch.
Auch bei den Fanprotesten im Frühling 2023 taten Stival und seine Anwälte die Angelegenheit als Verleumdungskampagne ab. Doch dieses Mal liessen die Medien nicht locker. Ein Team des lateinamerikanischen TV-Netzwerkes TV Globo reiste gar nach Bern, um eine Bestätigung der Verurteilung Ende der 80er-Jahre einzuholen. Dafür sprachen sie auch mit Willi Egloff – dem damaligen Anwalt des Opfers.
Über die jüngste Wende im Fall Stival zeigt sich der Berner Anwalt im Ruhestand auf Anfrage überrascht. Dazu äussern will er sich allerdings nicht. Dazu brauche er erst Einsicht in die schriftliche Urteilsbegründung, meint er.
Das damalige Opfer bekommt von der erstaunlichen Wende nichts mehr mit. Wie aus der Gerichtsverfügung hervorgeht, lebt die Frau nicht mehr. Das Gericht habe zwar einen Erben ausfindig gemacht, schreiben brasilianische Medien, dieser wollte sich jedoch nicht an einem neuen Prozess beteiligen.
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