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Russische Oppositionelle
«Putin hat meinen Mann getötet» – Julia Nawalnaja spricht erstmals in grossem Interview

BERLIN, GERMANY - MARCH 17: Yulia Navalnaya, widow of late Russian opposition figure Aleksei Navalny, stands in line with thousands of other expatriate Russian citizens waiting to vote at the Russian Embassy in Russian elections on March 17, 2024 in Berlin, Germany. Presidential elections in Russia, which are taking place without any meaningful opposition candidates allowed, will conclude today with President Vladimir Putin all but certain to be reelected. (Photo by Sean Gallup/Getty Images)
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Für das «Time»-Magazin ist es ein Scoop: Die Oppositionelle Julia Nawalnaja gibt ihr erstes grosses Interview seit dem Tod ihres Mannes Alexei Nawalny, und sie gibt es der US-Zeitschrift. Seit die 47-Jährige vor knapp zwei Monaten verkündet hat, dass sie das politische Erbe ihres Mannes antreten wolle, rätseln Russland-Beobachter, wie sie diese Aufgabe ausfüllen wird. «Time» widmet ihr nun ein Langstück von 30 Minuten Lesezeit. Geführt hat das Gespräch der russisch-amerikanische Journalist Simon Shuster, der früher Alexei Nawalny selbst interviewt hatte.

Lobesartikel von Kamala Harris

Nicht nur das Interview wird derzeit viel besprochen, denn das «Time»-Magazin kürte Nawalnaja nun auch zu einem der 100 einflussreichsten Menschen der Welt. Es scheint, dies ist Julia Nawalnajas Moment. Kamala Harris, Vizepräsidentin der USA, widmet ihr einen Lobesartikel. Und auch auf dem Hochglanz-Cover des «Time»-Magazins ist Nawalnaja zu sehen, wie sie seit dem Tod ihres Mannes auftritt: ernst, fokussiert, die Augen gezeichnet von Trauer.

Es sind gerade zwei Monate vergangen, seit Nawalny in Lagerhaft zusammenbrach und starb. Nun, so scheint es, nimmt Nawalnaja einen ersten Anlauf als Oppositionelle.

Die Zeit seither war für Nawalnaja selten ruhig. Sie hatte an der Münchner Sicherheitskonferenz vom Tod ihres Mannes erfahren, kurz darauf trat sie mit einer emotionalen Rede auf die Bühne. Sie sprach vor dem Europaparlament, richtete sich per Video an die Weltöffentlichkeit, traf US-Präsident Joe Biden. Doch ausführliche, öffentliche Antworten ihrerseits waren rar. Nun also traf der Journalist Simon Shuster sie in Litauen.

Time 100 Cover vom April 2024 mit Julia Nawalnaja. Coverfoto von Kristina Varaksina.

Dort und auch in Berlin hält sie sich auf. Und dies nicht mehr ohne Bodyguard, sagt sie im «Time»-Gespräch. Im Ausland erhofft sie sich Schutz vor den Fängen des russischen Geheimdienstes. Würde sie nach Russland reisen, würde sie verhaftet.

Sie weiss um das Risiko ihrer Arbeit: Der Angriff auf einen Mitarbeiter von Nawalny, Leonid Wolkow, habe sie vorsichtiger gemacht, sagt sie. Unbekannte hatten Wolkow, der innerhalb der russischen liberalen Opposition weitbekannt ist, nahe seinem Haus in seinem litauischen Exil aufgelauert und mit einem Hammer und Tränengas malträtiert.

Nawalnaja selbst ist bislang weniger mit konkreten Forderungen öffentlich in Erscheinung getreten, und auch das Interview bleibt dahingehend weitgehend unscharf. Sie fordert nun, wie schon vor kurzem, Kremlchef Wladimir Putin nicht länger als Politiker, sondern als Gangster zu behandeln. Ähnliches fordern andere russische Oppositionelle.

Bemühen um Einheit der Opposition

Putin solle nach der Scheinwahl im März 2024 nicht als Präsident anerkannt werden, verlangt etwa Michail Chodorkowski, selbst in London im Exil. Sowohl Nawalnaja als auch Chodorkowski bemühen sich, zu betonen, dass man harmoniere. Chodorkowski sagte dieser Zeitung, dass er «eng mit Julia zusammenarbeiten» wolle. Nawalnaja sagte nun, dass sie sich um die Einheit der Opposition bemühe.

Leicht hat es diese allerdings nicht: Ihr Einfluss aus dem Exil heraus ist begrenzt, die Distanz zu den Menschen in Russland gilt als zu gross. Breit zu mobilisieren, scheint bis auf verhaltene Protestaktionen wie «Mittags gegen Putin» unmöglich.

Etwas konkreter wird Nawalnaja im Interview beim Thema Sanktionen. Sie zielt auf Putins innersten Kreis und verlangt, dass dieser viel härter als bislang sanktioniert werden müsse. Nur unter diesem Druck, so Nawalnaja, würden sich Putins Freunde und engste Mitarbeiter von ihm abwenden.

Reichtum – und die Gier danach, darum gehe es, sagt sie. «Die Hälfte von ihnen hat Jachten und Flugzeuge. Belegt man diese Personen mit Sanktionen, werden sie anfangen, darüber nachzudenken, dass Putin ihnen nicht erlaubt, ihr verschwenderisches Leben weiterzuführen.»

Tatsächlich verweisen Russland-Forschende, unter ihnen die Politologin Ekaterina Schulmann, darauf, dass in Russland ein Umsturz, ein Systemwechsel so lange unmöglich ist, wie die Eliten nicht aufbegehren. Ob Nawalnaja diesen Gedanken im Sinn hat, bleibt offen.

epa09758441 Russian opposition leader and activist Alexei Navalny (L) and his wife Yulia Navalnaya (C) are seen on a monitor screen during an offsite court session in the penal colony N2 (IK-2) in Pokrov, Vladimir region, Russia, 15 February 2022. At an offsite court hearing in the penal colony N2 (IK-2), the Lefortovsky District Court of Moscow is conducting a trial of opposition leader Alexei Navalny, who has been imprisoned here for almost a year. An opposition blogger is being tried on charges of contempt of court and fraud. The founder of the Anti-Corruption Foundation, Alexei Navalny, was poisoned in the summer of 2020 and taken to Berlin for treatment, from where he flew to Moscow in January 2021. Immediately upon his return to Russia, he was detained and arrested, the court replaced his suspended sentence with a real one in the Yves Rocher case. Since March 2021, he has been in a colony in the city of Pokrov, Vladimir Region, he has been registered as prone to extremism.  EPA/YURI KOCHETKOV

Allerdings bringt sie die Antikorruptionsstiftung ins Spiel, die ihr Mann aufgebaut hat, und fordert, diese in die politischen Entscheidungen zu Sanktionsverfügungen einzubinden. Schliesslich kenne das Team das korrupte System durch jahrelange Recherchen. Nawalnaja, so scheint es, geht also einen Schritt vor in der Oppositionsarbeit.

Dabei bleibt sie vergleichsweise ernst und verzichtet auf den sarkastischen Humor, für den Nawalny bekannt war. Hin und wieder lässt sie Emotionen durchscheinen: «Putin ist mein Feind, er hat meinen Mann getötet, auf feige Weise». Auch sagt sie, dass sie mit Nawalny nie über dessen Nachfolge gesprochen habe. Ob er wolle, was sie tue, wisse sie schlicht nicht.

«Das ist nicht der Krieg Russlands»

Kritisch wird sie in einem strittigen Punkt. Nawalnaja betont, der russische Angriffskrieg in der Ukraine sei allein «Putins Krieg», nicht aber «Russlands Krieg», also der breiten Gesellschaft. Das betont auch Wolodimir Selenski. Dazu sagt Nawalnaja: «Dies ist eindeutig nicht der Krieg Russlands. (...) Die meisten Menschen wollen (…) ein Ende des Kriegs. Das bewiesen die Zehntausenden Menschen, die zur Beerdigung von Alexei, der erklärter Kriegsgegner war, erschienen waren.» Und weiter meint Nawalnaja: «Diese Menschen zu ignorieren, sei ein Fehler der ukrainischen Regierung.»

In der Ukraine ist die russische Opposition um Nawalny ohnehin nicht sehr beliebt, auch weil Nawalnys frühere Haltung zur Krim-Annexion ihr bis heute nachhängt. Nawalny hatte einst gesagt, die Krim sei kein Butterbrot (Sandwich), das man leicht wieder hergeben könne. Das «Time»-Cover mit Nawalnaja kursiert deshalb bereits als Fotomontage. Es zeigt Nawalnaja mit einem Sandwich in der Hand.

Die ukrainische First Lady Olena Selenska indes lobt Nawalnaja im Interview als sehr sympathisch. Es bleibt also weiter abzuwarten, wie sich die Russin in Zukunft als Aktivistin aufstellt – auch gegenüber der Ukraine.