Porträt des neuen ParteipräsidentenJetzt wird Glättli oberster Grüner
Am Samstag wählen die Grünen ihren neuen Parteichef. Der einzige Kandidat stammt aus der Stadt Zürich – und hat eine bewegt-linke Vergangenheit.
Zwei Anekdoten, die über Balthasar Glättli kursieren: Als Aktivist von «Züri Autofrei» sei er in den 90er-Jahren einmal splitternackt durch die Stadt Zürich gerannt. Und in seiner Jugend habe er sich im freikirchlichen Milieu engagiert.
Es sind diese zwei Geschichten, die Glättli erzählt, als man ihn zum Gespräch trifft und nach den meistverbreiteten Irrtümern über seine Person fragt. Ja, «Züri Autofrei» habe einmal die Aktion «Flitzen statt rasen» durchgeführt, bei der die Leute nackt, nur mit Turnschuhen an den Füssen, durch die Stadt gerannt seien. «Aber ich war Mediensprecher und habe, dick vermummt, die Kamerateams von Ort zu Ort begleitet.» Und in seiner Jugend habe er sich intensiv mit Religion auseinandergesetzt. «Aber ich war nie in einer Freikirche.» Dass man ihn als Jugendlichen Jesus genannt haben soll, wie in vielen Porträts zu lesen ist: Auch das will Glättli so nicht wahrgenommen haben.
Es wirkt kaum zufällig, dass Glättli just diese Gerüchte anspricht, um sie dann zu dementieren. Der Stadtzürcher, der an diesem Mittwoch 48 Jahre alt wird, ist im Begriff, an die Spitze der Partei aufzusteigen. Am Samstag will er sich zum Nachfolger der scheidenden Präsidentin Regula Rytz wählen lassen. Und Kandidaturen für hohe Ämter sind der Moment, da alte, nicht immer vorteilhafte Geschichten hervorgekramt werden.
Fakt ist aber auch, dass Glättli keine Konkurrenz hat. Alles lief von Anfang an auf den einen und einzigen Bewerber hinaus, auf den starken Mann aus Zürich. Ein Glücksfall für die Partei, so scheint es, ist doch ihr Reservoir an medienerprobtem Personal mit ausgewiesener Führungserfahrung nicht sehr voluminös.
Leukämie überlebt
Doch was hat Glättli vor mit den Grünen, warum will er das Präsidentenamt überhaupt? Immerhin war er schon bisher in einflussreicher Position. «Als Fraktionschef beschäftigte ich mich vor allem mit der täglichen politischen Kleinarbeit, mit dem Streit über Kommas», so Glättli. Er möchte jetzt endlich mehr über Grundsätzliches, über Werte und Visionen sprechen.
Man glaubt ihm das: Mit Glättli reden heisst fast immer, einem Gesprächsfaden vom Konkreten ins Allgemeine zu folgen, vom Bodenständigen auf enorme Flughöhen. Zu den Grünen zog es ihn vor drei Jahrzehnten, weil sie sich zu einem bestimmten Anliegen bekannten, das ihm wichtig ist – nicht dem Umweltschutz in erster Linie, sondern dem garantierten Existenzminimum. Wie viele Schweizer Grüne beschäftigt ihn die soziale Frage mindestens ebenso sehr wie die Ökologie. Im Nationalrat kümmert er sich schwergewichtig um Migrationsfragen und die Digitalisierung.
Politik betreibt Glättli seit Schülerzeiten, stets angetrieben von einer grundlegenden Sinnsuche. Als Kind überlebte er die Leukämie, fragt sich seither: warum ich? Daher auch die zeitweilige Faszination für die Religion. Inzwischen ist er aus der Kirche ausgetreten.
«Er wirkt integrierend und kann trotzdem führen.»
«Eine Krankheit, wie er sie durchmachen musste, habe ich nicht erlebt. Vielleicht haben seine Auftritte darum etwas Pfarrerhaftes – ein Grundpathos, das bei mir fehlt.» Das sagt die Politikerin, die Glättli besser als alle anderen kennt: Min Li Marti, Zürcher SP-Nationalrätin. Sie lebt mit Glättli in einer Eigentumswohnung in Zürich-Aussersihl, die beiden haben eine Tochter. Die Übereinkunft für die absehbare Wahl zum Parteichef steht bereits: nicht jeden Abend ein Termin, weiterhin einen Tag Kinderbetreuung. Dass ihm das Amt zusetzen könnte, fürchtet Marti nicht. «Er hat ja viel Erfahrung. Und er ist eine relativ robuste Persönlichkeit.»
Wozu dieser Robuste seine präsidiale Macht nutzen will, das ist die Frage, die ihm in der kommenden Zeit auch seine Parteifreunde stellen werden. Erkundigt man sich nach Plänen, kommt erst mal Strukturelles: den Auftritt professionalisieren, die Fraktionsmitglieder bekannter machen. Einen grossen politischen Wurf, eine spektakuläre Idee für eine Volksinitiative etwa, hat er im Moment nicht in petto. Natürlich ist da die Klimawende: Es gelte jetzt, das CO2-Gesetz erfolgreich durch die Referendumsabstimmung zu bringen. Längerfristig möchte Glättli eine «positive Vision eines Wohlstands ohne Wachstum» entwickeln.
Ein «Wachstumsskeptiker»
Als «Wachstumsskeptiker» sieht sich Glättli in der Tat. Die Migration will er trotzdem nicht einschränken – eine Öffnung oder gar eine Kurskorrektur der Grünen in Richtung Ecopop ist unter Präsident Glättli nicht zu erwarten. Ohnehin wird die Partei bleiben, was auch ihr designierter Chef ist, was seine charmante Ironie aber zeitweilig vergessen macht: dezidiert links, nicht übertrieben kompromisswillig. Beim folgenschweren Richtungsstreit unter den Zürcher Grünen Anfang der Nullerjahre, der zur Abspaltung der Grünliberalen führte, trug Glättli als einer der massgeblichen Akteure kaum zur Deeskalation bei.
Immerhin hatte er in der Zwischenzeit Gelegenheit, seine Qualitäten als Mediator zu schulen. Bei seinen Leuten im Bundeshaus ist er wohlgelitten. «Meine Lieben», so pflegt er die Ansprachen an die Fraktion zu eröffnen. «Er wirkt integrierend und kann trotzdem führen», lobt Ständerätin Maya Graf, dienstältestes Mitglied der Fraktion und früher selber deren Chefin. «Und er arbeitet unglaublich viel.»
Fleiss allein wird für Glättli freilich nicht genügen, die grösste seiner Herausforderungen zu bewältigen: Er muss das Schweizer Volk davon überzeugen, dass es richtig lag, als es den Grünen letzten Herbst einen sensationellen Wahlerfolg bescherte. Viel wird er dafür benötigen: Geschick im Networking, Gespür für die richtigen Themen (nicht zuletzt in Abgrenzung zur SP), Geld. Der Präsident der Grünen ist auf einmal eine mächtige Figur in der Schweizer Politik – ob er es bleiben kann, wird sich zeigen.
Dass Glättli als Grünen-Chef in der TV-«Arena» rhetorisch gegen seine Gegner zu bestehen vermag, daran zumindest ist nicht zu zweifeln. Glättli ist ein eloquenter Debattierer. Und wenn er mit einer vorbereiteten Rede ans Mikrofon tritt, dann sitzen die Pointen ebenso wie seine modisch akkuraten Anzüge – Glättli überlasst das Glättli-Image nicht dem Zufall, dem Klischee des «chaotischen Linken» zum Trotz.
Er ist eben auch seit je ein bisschen eitel – hat es nie dementiert, sieht es eher als typischen Wesenszug eines Politikers. Vielleicht schafft er auch darum gerne gewisse alte Geschichten aus der Welt. Balthasar Glättli, ein Nacktsprinter, ein ehemaliger Religionsfundi? Passt doch nicht.
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