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Ihn kannten nur Experten
Jetzt löst dieser Argentinier Italiens Sturmproblem

Mateo Retegui aus Argentinien, 23 Jahre alt, ist der neue Neuner der Azzurri. Der hoffnungsfrohe Retter des Vaterlandes. In seinem Fall: Des Urgrossvaterlandes.
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Und tatsächlich: Mateo Retegui hat nun schon mal getroffen. Beim Debüt gegen England, als alle Augen auf ihn gerichtet waren. Gebracht hat das nichts, es war nur ein Blitz in der Nacht Neapels. Italien verlor zum Auftakt der Qualifikation für die Europameisterschaft 1:2 – ziemlich verdient, muss man dazu sagen.

«Little Italy», titelte die Zeitung «La Repubblica» danach, eine Schlagzeile, die ihre schöne, doppeldeutige Wucht erst im Echo entfaltet. Doch woran sollen sich die Italiener schon aufrichten, wenn nicht an diesem jungen Mittelstürmer aus dem fernen Argentinien, vom Ende der Welt.

Mateo Retegui vom Club Atlético Tigre, 23 Jahre alt, ist der neue Neuner der Azzurri. Der hoffnungsfrohe Retter des Vaterlandes. In seinem Fall ist es das Urgrossvaterland.

Das Problem: Italien produziert keine Stürmer mehr

Angelo Di Marco aus dem sizilianischen Canicattì ist vor langer Zeit nach Argentinien ausgewandert, der Urenkel spricht kein Wort Italienisch. Es ist nicht einmal sicher, ob Retegui vor seinem Aufgebot in die italienische Nationalmannschaft jemals in Italien gewesen war.

Der Alltag in Argentinien: Mateo Retegui (Mitte) stürmt für den Club Atlético Tigre in Buenos Aires. In Europa kannten ihn bisher bestenfalls internationale Scouts, Nischenkundige und Agenten.

Aber so wichtig ist das nicht, er soll jetzt gefälligst die Verzweiflung der Italiener auf jener Position wegwischen, die früher immer mal gut besetzt war. Von Luca Toni etwa, von Christian Vieri, vom vermissten Gianluca Vialli, um nur drei aus der näheren Vergangenheit zu nennen. Beim zweiten Qualifikationsspiel, am Sonntagabend gegen Malta, ist Retegui wieder von Beginn weg dabei, und das ist kein Wunder.

Italien trifft nicht mehr, es ist ein Jammer. Es wachsen einfach keine grossen Stürmer mehr nach. Die Vereine der Serie A holen lieber mittelmässiges Personal und vergangene Glorien aus dem Ausland, als dass sie auf den eigenen Nachwuchs setzen. Das Problem ist erkannt. Es wird auch über neue Regeln diskutiert beim Verband: Die Clubs sollen gezwungen werden, mehr Junge aus ihren Akademien in die erste Mannschaft aufzunehmen. Es ist mal wieder von der Notwendigkeit eines Kulturwandels die Rede. In der Regel heisst das vor allem: Geht lange, ist kompliziert, Erfolg ungewiss.

Retegui konnte sich lange nicht zwischen Landhockey und Fussball entscheiden

Und so sucht Roberto Mancini, der Commissario Tecnico, eben auch nach unorthodoxen Lösungen. Er testet etwa Spieler, die in ihren Vereinen kaum je oder gar nicht zum Einsatz kommen. Einen Anruf erhielt zum Beispiel Simone Pafundi von Udinese, 17 Jahre alt. Der Mittelfeldspieler gilt als ganz grosses Talent, so gross, dass er die Nationalmannschaft verdient – nur, im eigenen Club spielt er fast nie. 89 Fussballer hat Mancini schon getestet, in 57 Länderspielen, ein denkwürdiger Rekord, ein recht untrügliches Zeichen für die Ohnmacht des Coachs.

Von Mateo Retegui hatten in Europa bestenfalls internationale Scouts, Nischenkundige und Agenten gehört. Er ist der Sohn des früheren argentinischen Nationalcoachs im Landhockey. Die ganze Familie Retegui spielte oder spielt Hockey. Mateo konnte sich lange nicht entscheiden, ob er eher dem grossen Lederball oder einem kleinen Kunststoffball nachrennen mag. River Plate holte ihn in ihre Jugend, liess ihn aber fallen, und so kehrte er mit 14 zurück zum Hockey. Ein Scout von Boca Juniors entdeckte ihn am Strand, beim Sandgekicke mit Freunden. So kam er zum Verein der italienischen Emigranten. Der lieh Retegui aber in den vergangenen Jahren immer aus.

Innert dreier Tage hat Mateo Retegui die Taktik des Calcio gelernt – per Einzelunterricht im Trainingszentrum der Azzurri bei Florenz.

Bei Tigre aus Victoria, einer Kleinstadt im Grossraum von Buenos Aires, gelang ihm der Durchbruch: 25 Tore in 34 Spielen, das ist schon eine beachtliche Quote. Aber was ist die wert, übersetzt in europäische Kategorien?

Mancini belud ihn bei seiner Ankunft in Italien mit einem Vorschuss, den man ihm besser erspart hätte. «Ich will nicht übertreiben», sagte der Trainer, «doch Retegui erinnert mich an den frühen Batistuta.» An «Batigol» also, den grossen Gabriel Omar Batistuta – nur gut, hat Mancini nicht übertreiben wollen. Die italienischen Zeitungen waren belustigt über das Aufgebot. Sie nannten Retegui «Bomberino». Ein Blatt fand: Immerhin, der habe das Tor im Namen stehen: «Rete-gui» – rete ist das italienische Wort für Tor. In Coverciano, dem Trainingszentrum der Azzurri bei Florenz, erhielt er taktischen Einzelunterricht, eine Schnelleinführung in den Calcio. Drei Tage Zeit hatten sie nur.

Er ist der 51. «Oriundo» in der Geschichte des Calcio – sie waren immer kontrovers

Doch Mancini berief Retegui in die Startelf, aus dem Nichts, und machte ihn zum 51. Oriundo in der Geschichte der italienischen Nationalmannschaft. Der Begriff «Oriundo» kommt ursprünglich vom lateinischen Verb «oriri», geboren werden. Gemeint sind Italiener der Diaspora mit oft sehr fernen Vorfahren, die die Staatsbürgerschaft ihres Geburts- und Wohnlandes angenommen haben – und sich dann ihrer Herkunft besinnen, für ihren eigenen sportlichen Ruhm und zuweilen für den Ruhm des verblassten Vaterlandes.

Es gab berühmte, zuweilen gefeierte Oriundi über die Jahrzehnte: Omar Sivori, José Altafini und Mauro Camoranesi etwa. Es gab aber auch solche, die schnell wieder weg waren, manchmal nach einem einzigen Auftritt. Kontrovers war ihr Einsatz immer.

Bei Mateo Retegui war das auch so, es wurde sogar moniert, dass er im Vornamen nur ein t trägt, wo die italienische Entsprechung sich doch mit zwei t schreibt: Matteo. Alles Geplauder. 56 Minuten lang war Retegui völlig verloren auf dem Platz, chancenlos im Nahkampf mit seinem Gegenspieler Harry Maguire. Falsches Timing, falsche Laufwege. Und Bälle? Kriegte er keine. Es gab Momente, da konnte einem Retegui richtig leidtun.

Erstes Tor im ersten Spiel: Mateo Retegui trifft, die Engländer triffts. England gewinnt am Ende trotzdem.

Die Kommentatoren am italienischen Fernsehen bemühten schon alle möglichen mildernden Umstände. Doch dann, als die Italiener ihren Spielschwerpunkt etwas weiter nach vorne verlegten, war er plötzlich da, in Maguires Rücken. Wie ein «Hai», schreiben die Zeitungen. Bis dahin hatte es sich eher so angefühlt, als hätte man ihn den Haien zum Frass vorgesetzt.

Der Debütant bekam von allen Italienern die besten Noten. Wegen des Treffers, allein wegen dieses Blitzes in der Nacht. Es war der einzige Schuss aufs Tor der Italiener gegen England. «Little Italy», so nennt man ja auch die Viertel in den Städten weit ab von Italien, wo sich die Emigranten niederliessen, alle beisammen. Mit der Wehmut nach der gloriosen und oftmals glorifizierten Heimat.