AboAngst um Bel PaeseItalien hört nicht auf, die Welt zu verblüffen
Nach dem Draghi-Sturz ist das zynische, Chaos-Land zurück – dachten viele. Diese Endlos-Version von «House of Cards». Jetzt zeigt sich: Alles halb so wild.
Wenige Stunden vor dem Abpfiff meldet sich Emma Marcegaglia zu Wort. Es ist der Vorabend des «Tages des Wahnsinns», an dem drei Koalitionsparteien dem Regierungschef Mario Draghi das Vertrauen entziehen. Die Nervosität steigt in Rom von Minute zu Minute. Die resolute Stahlunternehmerin aus Mantua wird ins Talk-Studio zugeschaltet. Man ist von ihr klare Worte gewohnt.
Marcegaglia blickt finster drein. Mit gewohnter Härte hämmert sie ihre Sätze. Ein Sturz Draghis hätte schwerwiegende Konsequenzen, sagt sie. Italien würde mitten in einer brisanten Weltlage seine neue geopolitische Rolle verlieren, die es dem Einfluss des früheren EZB-Chefs verdanke. Das ginge auch auf die Kosten der Wachstumschancen. Angesichts von Gaskrise, Inflation, Energiewende, gerissenen Lieferketten und Rezessionsgefahr seien vorgezogene Neuwahlen im Herbst verantwortungslos. «Nur mit Draghi im Sattel können wir diese explosive Situation durchstehen», sagt die frühere italienische Industriellenchefin. Halb Italien hatte versucht, die populistischen Hasardeure von dem Handstreich abzubringen. Vergeblich.
Und nun? Was wird jetzt ohne Draghi aus Italien? Die Frage stellt man sich in der grotesken Sommerkrise des Mittelmeerlandes rund um die Welt. In Europa brennt sie besonders unter den Nägeln.
Bevor die Neuwahlen am 25. September darauf eine Antwort geben können, stöhnen Beobachterinnen und Beobachter erst mal auf: Das alte, zynische, unzuverlässige Chaos-Land ist zurück! Und: Im Italien des permanenten Ausnahmezustands lauert wieder Gefahr für Europa. Die römische Endlos-Version von «House of Cards», deren Drehbuch niemand durchblickt, schürt erneut die Angst vor Turbulenzen auf den Finanzmärkten. Eine Woche nach dem misslichen Comeback des Chaos-Lands lässt sich feststellen: Italien hört nicht auf, die Welt zu verblüffen. Spoiler: Irgendwie ist alles halb so wild.
Draghi jedenfalls hat das Arbeitspensum der Regierung noch einmal gesteigert. Nach seinem Rücktritt wurde er von Staatspräsident Sergio Mattarella beauftragt, bis zu den Wahlen in acht Wochen die Geschäfte weiterzuführen, um Italien in der internationalen Grosskrise auf Kurs zu halten. «Das hat nie besser funktioniert», ist aus Draghis engstem Mitarbeiterstab zu hören. Ohne den bunten Haufen verfeindeter Koalitionsparteien im Nacken geniesst der Ex-Notenbanker offenbar wieder die frühere Leichtigkeit des Handelns.
Unter der römischen Hitzeglocke trommelte Draghi sein Kabinett in der vergangenen Woche gleich zweimal zusammen. Während die Parteispitzen den überstürzten Wahlkampf organisieren, werden im Palazzo Chigi befreit die Aufgaben abgehakt. Die Reform der Ziviljustiz, auf die man in der EU-Kommission besonders ungeduldig wartet, kam mit der Verabschiedung wichtiger Durchführungsdekrete voran. Am kommenden Dienstag ist dann die Stärkung der Strafjustiz dran. Das Ziel der Reformen ist ehrgeizig: Der Rückstau von Prozessen in Zivilsachen soll um 40 Prozent und in Strafsachen um 25 Prozent abgebaut werden. Das Parlament muss bis zum Jahresende zustimmen, damit Italien weitere 19 Milliarden Euro aus dem europäischen Wiederaufbaufonds kassieren kann.