Interview mit Sepp Blatter«Infantino erinnert mich an Pinocchio»
17 Jahre lang dominierte Sepp Blatter die Fifa als Präsident – jetzt ist er 88 und kein bisschen leise: Auf scharfe Art kritisiert er die Arbeit seines Nachfolgers Gianni Infantino.
Wer in Sepp Blatters Wohnzimmer kommt, am Zürcher Stadtrand mit Seesicht, sieht als Erstes einen riesigen Fernseher. «Mein Partner Sony», sagt er. Fussball schaut er oft, am Abend des Besuchs steht Real Madrid gegen Borussia Dortmund auf dem Programm. Real ist, neben dem FC Visp natürlich, sein Lieblingsclub. Hier ist er Ehrenmitglied.
Blatter beschäftigt sich im Alltag mit den kleinen Sachen des Lebens und ebenso mit den grossen Veränderungen, die der Fussball durchmacht. Dabei wird wieder einmal deutlich, wie unüberbrückbar die Distanz zu Blatters Walliser Landsmann Gianni Infantino ist, dem Herrscher über den Weltverband seit bald neun Jahren.
Sind Sie froh, dass wir in Ihrem Wohnzimmer sitzen?
Ich freue mich über jeden Besuch, der zu mir kommt.
Genau darum fragen wir: Kürzlich haben Sie gesagt, dass Sie froh sind, wenn etwas läuft und Sie Ihre Hirnzellen anstrengen müssen.
Ich habe gern Leben um mich herum.
Wie sieht dieses Leben aus?
Mein Gesellschaftsleben findet in Zürich und nicht im Wallis statt. Sehen Sie, hier ist mein Programm für Oktober und November. (Er nimmt ein A4-Blatt hervor, auf dem er säuberlich alle Termine aufgelistet hat.) Ich bin zum Beispiel beim Angst-Stamm, der ist zu Ehren des Metzgermeisters Angst. Er war beim Blue-Stars-Juniorenturnier unser erster Sponsor. Am Donnerstag treffen wir uns in Pfäffikon, und darum habe ich eine Einladung in die ungarische Botschaft in Bern absagen müssen. Das wäre mir zu viel gewesen.
Und sonst?
Ich bin beim Gusti-Cup dabei (so heisst ein jährliches grosses Treffen alter Fussballgrössen). Ich bin Mitglied der ultimativen Kenner des Fussballs, als einer von fünf (schmunzelt). Wir treffen uns jeden Monat. Ich bin Präsident einer Gruppe für eine autonome Republik Oberwallis, allerdings momentan als einziges Mitglied. Ich bin bei der Zunft am Stauffacher, die sich in Gründung befindet. Ich habe eine Stiftung, die sich um Sport und Soziales kümmert. Ich halte Vorträge, gerade am Freitag an der HSG. Ich bin auch Ehrenpräsident der GC Legends, weil ich einst mit ihren Veteranen spielte. Oder waren es die Senioren 3? Einer der berühmtesten Spieler war Toni Allemann. Ich war Mittelstürmer …
Sicher mit der Nummer 9 …
… und ich war der Schnellste der Alten. (lacht)
Sie schauen also, dass Betrieb ist.
Dass ich nicht einschlafe. Zweimal im Monat fahre ich mit dem Zug zu meiner Familie ins Wallis. Dabei danke ich jeweils Dölf Ogi – dass er die Neat gebaut hat. Ich schaue fern. Ich lese. Ich mache Sudoku, und wenn das olympisch wäre, käme ich in die Medaillenränge. Ich spiele in einer Kreuzworträtsel-Gruppe mit.
Wie steht es um die Gesundheit? Vor vier Jahren waren Sie monatelang im Spital und wochenlang im künstlichen Koma.
Ich hatte Covid, die Lungen waren kaputt. Man hat mich abgeschrieben. Die Engel wollten mich mitnehmen. Aber Petrus wollte das nicht. Und ich auch nicht. Und jetzt bin ich immer noch da. Ich habe ein ganzes Leben lang gestrampelt.
Das hat ja schon mit der Geburt begonnen.
Ich kam nach sieben Monaten auf die Welt – und wog so wenig! 1,2 Kilo oder 1,25. Die Ärzte, die mich später behandelten, sagten, meine Mutter sollte man heiligsprechen. Ich wollte immer leben. In jungen Jahren bekam ich einen Scheuermann. Und als ich begann, Sport zu machen, bog sich der Rücken nicht nur so (er zeichnet mit der Hand einen Halbkreis in die Luft), sondern auch seitlich. Eine Skoliose. Eine medizinische Fakultät könnte die Aufnahmen meines Rückens gut gebrauchen, um zu zeigen, wie Menschen leben können.
Sie waren über 40 Jahre lang bei der Fifa und 17 Jahre lang ihr Präsident, Sie standen fast immer im Rampenlicht. Fühlen Sie sich jetzt nie einsam?
Ich bin gern allein, aber «abandonné», einsam? Das bin ich nicht. Ich sage: Besser allein als schlecht begleitet. Ich bin zufrieden mit mir selbst, mit meinem Gewissen und meiner Seele. Ich schlafe gut. Und ich habe Corinne, meine Tochter. Sie ist meine wichtigste Bezugsperson.
Der tumultuöse Abgang bei der Fifa hat keine Narben hinterlassen?
Das habe ich als Ungerechtigkeit empfunden. Aber am Ende wird die Gerechtigkeit siegen, und sei es nur die Gerechtigkeit Gottes.
Was wollen Sie uns damit sagen?
Was soll ich sagen, wenn ich vor meinem Schöpfer stehe? Das sei nicht gut gewesen und das auch nicht. Nein, ich werde sagen: «Dankeschön, ich habe ein wunderbares Leben gehabt.» Ich kann mich nicht beschweren.
Die Absetzung im Sommer 2015 hat geschmerzt.
Sie hat wehgetan, ja. Aber das Böse habe ich überwunden.
Ihre sechsjährige Sperre, die die Fifa-Ethikkommission aussprach, ist seit 2021 abgelaufen. Sie könnten wieder als Präsident kandidieren.
(lacht) Konfuzius sagte: «Wenn du Pferd gewesen bist, werde nie mehr Esel.» Ich kann nicht zweimal Pferd sein.
Vom Bundesstrafgericht sind Sie im Sommer 2022 zusammen mit Michel Platini vom Verdacht des Betrugs freigesprochen worden. Es ging um Ihre Zahlung von 2 Millionen an Platini.
Da die Bundesanwaltschaft mit der Fifa in Revision ging, wird der Fall im nächsten März nochmals behandelt. Aber was will das nächste Gericht anders entscheiden als das Bundesstrafgericht?
Weiter hängig ist die Anschuldigung der Fifa wegen des Bonus, den Sie für die Durchführung der WM 2010 in Südafrika erhielten. Die Fifa will dieses Geld zurück.
Momentan passiert da nichts. Das Geld habe ich versteuert, hier in Zürich.
Da geht es um die berühmten 10 Millionen Franken.
Da geht es um die berühmten 10 Millionen. Die sind aber nicht als 10 Millionen ausbezahlt worden, sondern in Tranchen.
Hatten Sie nicht ein schlechtes Gewissen, einen solch hohen Bonus zu bekommen, nur weil eine WM stattfand? Sie haben auch sonst gut gelebt.
Ich habe diesen Bonus nicht verlangt! Ich hatte auch nie einen Vertrag bei der Fifa verlangt. Den ersten Vertrag erhielt ich erst, als ich schon ein Jahr für die Fifa gearbeitet hatte. Ich sollte die Entwicklungspläne umsetzen, die Präsident João Havelange hatte. Im Februar 1975 bekam ich ein Aufgebot, den Generalsekretär zu besuchen. Der hiess Helmut Käser und sagte: «Ich rate Ihnen ab, diesen Posten anzunehmen, den Havelange Ihnen anbietet. Das brauchen wir in der Fifa nicht.» Ich antwortete: «Ich habe bereits zugesagt.» Ich begann meine Arbeit und bekam nicht nur kein Geld. Sie haben mir Dokumente wie die Spielregeln, die ich brauchte, sogar noch verrechnet.
Sehen Sie, so haben Sie zum Reichtum der Fifa beigetragen.
Mit Glück und Geschick fand ich per Zufall Coca-Cola als Sponsor für ein weltweites Entwicklungsprogramm. Anfang 1976 gab es in New York und London zwei grosse Pressekonferenzen. Alle applaudierten Havelange. Mich nahm man gar nicht zur Kenntnis. Wenn ich im Exekutivkomitee etwas vorbrachte, hiess es: «Ah, dieser Mensch spricht …»
Wann erhielten Sie den ersten Vertrag?
Das war im September 1975.
Was verdienten Sie?
Ich glaube, das waren 6400 Franken im Monat.
Daraus wurden ein paar Nullen mehr.
Später, ja. Aber eben: Das wurde mir offeriert, ich habe nicht darum gekämpft.
Wer ist denn auf die Idee mit dem Bonus gekommen?
Südafrika war die erste WM, die richtig viel Geld einbrachte. Im Exekutivkomitee hiess es darum, dass diejenigen, die dafür massgeblich verantwortlich waren, entsprechend entschädigt werden sollten. Am Ende war es Julio Grondona, der sich im Auftrag des Exekutivkomitees um die Umsetzung kümmerte. Die Zahlung wurde in der Abrechnung ausgewiesen und dem Kongress vorgelegt, und der Kongress genehmigte das.
Was Sie sich schon lange wünschen, ist ein Treffen mit Gianni Infantino. Wieso ist Ihnen das so wichtig?
Infantino traf ich am Sonntagabend vor seiner Wahl (am 26. Februar 2016) in meiner Wohnung in Zürich. Ich sagte ihm: «Hör mal, ich habe die Fifa überstürzt verlassen. Aber ich habe noch eine Liste mit Sachen, die mir gehören.» Davor, als mich die Ethikkommission zu meiner Strafe verdonnert hatte, anfänglich zu acht Jahren Sperre, hatte ich am gleichen Abend meine Leute im Büro zusammengenommen, mit ihnen ein Glas Wein getrunken und gesagt: «Morgen Vormittag bin ich dann wieder da.» Das hat nicht funktioniert. (lacht) Und weil es nicht funktioniert hat, sind noch immer ein paar Sachen von mir bei der Fifa.
Darunter soll es auch ein paar teure Uhren haben.
Richtig. Als der neue Präsident gewählt war, sagte er: Solange er Präsident sei, komme Sepp Blatter nicht mehr in die Fifa.
Haben Sie eine Erklärung für diese Abneigung Infantinos Ihnen gegenüber?
Ich kann es ja nicht damit begründen, dass ich von Visp bin und er von Brig. Ich kam mit ihm schon nicht aus, als er noch bei der Uefa Generalsekretär von Platini war.
Was war da?
Wir bildeten bei der Fifa unter der Leitung von Rechtsprofessor Mark Pieth eine Reformkommission mit der Absicht, Personen auf ihren Leumund zu durchleuchten, die von den einzelnen Konföderationen für das Exekutivkomitee nominiert werden. In Zürich gab es dazu eine Sitzung mit den Generalsekretären dieser Konföderationen. Einer stand wie von der Tarantel gestochen auf und sagte: «Kommt nicht infrage! Wir von der Uefa lassen uns nicht von einer Gruppe, die nichts mit uns zu tun hat, vorschreiben, wer uns bei der Fifa vertritt.» Da sagten die anderen: «Dann machen wir das auch nicht.»
Das war also Ihr erstes Erlebnis …
Mit Infantino, ja. Mais c’est la vie.
Was würden Sie sich von einem Treffen mit ihm versprechen?
Wenn Sie von den Animositäten reden, die er mir gegenüber hat: Er sollte doch dankbar dafür sein, in welch finanzieller Lage sich die Fifa bei seiner Übernahme befand. Das waren Fernseh- und Marketingverträge, die Milliarden wert sind, zum Teil bis 2030. Er konnte sich ins gemachte Nest setzen. Darum würde ich ihn gern einmal treffen. Aber meine Tochter Corinne sagt: «Das kannst du vergessen. Der will nie mit dir reden.» Wie er sich mir gegenüber verhält, ist respektlos.
Auch Bundesrätin Viola Amherd versuchte zu vermitteln.
Das war im Rahmen der 100-Jahr-Feier des Walliser Fussballverbands. Aber da tauchte er gar nicht auf.
Wir bezeichneten Infantino einmal als «Welt-Bösewicht», deutsche Zeitungen als «Verräter» oder «Oberschurke». Was ist er für Sie?
In Katar, vor der WM, sagte er, dass er alles sei: Araber, Afrikaner, schwul, behindert, Gastarbeiter, alles. Er erinnert mich an Pinocchio. Der konnte auch alles. Aber wenn er nicht die Wahrheit sagte, wurde die Nase länger.
Infantino hat ein distanziertes Verhältnis zur Schweiz.
Er macht nur etwas: dank einer Abmachung seine Steuern in Zug zu zahlen. Aber sonst? Macht er nichts mehr hier.
Er hat einzelne Abteilungen nach Paris und Miami verlegt. Haben Sie Angst, dass die Fifa eines Tages ganz aus Zürich wegzieht?
Angst nicht. Der Punkt ist, dass die Stadt überhaupt nichts macht, um zu zeigen, dass sie die Fifa hier haben will.
Infantino kann innerhalb der Fifa machen, was er will. Wieso lehnt sich keiner auf?
Beim letzten Kongress im Mai in Bangkok mussten die Verbände über eine Statutenänderung, eine Reglementsänderung, die Zusammensetzung von Komitees und Streitereien von Verbänden entscheiden, zum Beispiel zwischen Israel und Palästina. In einer einzigen Abstimmung. Und niemand sagte, dass etwas falsch laufe! Keiner der 210 Verbände!
Es regt sich doch keiner, solange er von der Fifa viel Geld erhält.
Ja. Infantino sitzt am Tresor. Und dank des neuen Sponsoringvertrags mit Aramco (saudischer Ölkonzern) hat er noch mehr Geld.
Bei Ihnen war es doch nicht anders. Die Verbände machten auch, was Sie oder Ihr Gremium, das Exekutivkomitee, wollten.
Wir kontrollierten die Finanzen. Wir schauten, dass die WM auf allen Kontinenten ausgetragen wird, dass der Fussball ein sozial-kulturelles Ereignis ist. Wir gründeten die Ethikkommission. Und das Erste, was diese machte: Sie kickte mich raus.
Jetzt sind Sie schön ausgewichen.
Meine Führung in der Fifa basierte auf Vertrauen und Loyalität. Es gab Entscheide von Gremien wie des Exekutivkomitees, der Finanz- oder der Schiedsrichterkommission, die nach den Statuten umgesetzt wurden. Es existierte ein doppeltes Kontrollsystem – durch die Revisionsgesellschaft KPMG sowie durch die 2002 vom Kongress gewählte Finanzaufsichtskommission.
Unter Infantino wird alles grösser, die WM, die Club-WM …
Und alles wird teurer. Wie viele Abos brauchen Sie, um heute noch Fussball schauen zu können? Infantino geht es gar nicht um den Fussball. Einem, der so schlecht gespielt hat, kann es gar nicht darum gehen. Der bringt ja nicht einmal den Ball aus elf Metern ins Tor. Über ihn sagt doch alles, dass er die WM-Rechte für 25 Milliarden Dollar an Saudiarabien verkaufen wollte.
2034 geht die WM nach Saudiarabien. Problematisch ist, wie inzwischen die Weltmeisterschaften vergeben werden. Eigentlich sollte der Kongress darüber entscheiden, jetzt darf er noch abnicken, was der Fifa-Rat oder Infantino gleich im Alleingang via Instagram verkündet hat.
Ja, ohne Transparenz. Und die Fifa fällt von einem Extrem ins andere. Katar war ein kleines Land, 2026 geht man in die USA, nach Kanada und Mexiko, alles grosse Länder, die eine WM selbst organisieren könnten. 2030 findet sie gleich auf drei Kontinenten und in sechs Ländern statt. Nein, das ist … (bricht ab) Niemand steht dagegen auf.
Wieso auch? Ein Ausbau bringt mehr TV- und Werbeeinnahmen, davon profitieren alle Verbände. Und mehr kleine Länder können auf eine Teilnahme hoffen, es gibt 48 statt 32 Mannschaften, 104 statt nur 64 Spiele.
Das ist zu viel. 32 Mannschaften war ein guter Wert.
Die Club-WM hat künftig 32 statt 7 Teilnehmer und 63 statt 7 Spiele. Das ist …
Total falsch. Die Fifa soll sich um die Nationalverbände kümmern und nicht um die Clubs.
Sie führten selbst eine Club-WM ein.
Ich gebe zu, das war ein Fehler.
Sepp Blatter, eine letzte Frage: Was erträumen Sie sich noch?
Ich habe 207 von 209 Verbänden besucht, die es zu meiner Zeit gab, ausser Afghanistan und einen kleinen Inselstaat in der Karibik. Jetzt möchte ich nur noch eine Reise machen. Nach Petra in Jordanien (das ist eine berühmte archäologische Stätte.) Dort war ich noch nie. Aber sonst? Ich habe so viele interessante Kulturen und Menschen kennen gelernt, dass ich jetzt genau weiss: Zu Hause bei meiner Familie ist es am schönsten.
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