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Interview mit Heinz Bude
«Nicht Interessen, Wünsche treiben die Menschen an»

Heinz Bude, deutscher Soziologe und Publizist in seiner Wohnung, Berlin, 26.01.2024
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Herr Bude, die AfD erreicht Höchstwerte in den Umfragen. Hunderttausende gehen dagegen auf die Strasse. Muss man sich Sorgen machen um Deutschland?

Anlass zur Sorge gibt der galoppierende Legitimitätsverlust der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP. Das ist keine Frage von wirtschaftlichen Interessen, welche die Regierung nicht genügend berücksichtigt. Diese sind oft nur Symptom dafür, dass die Regierung die Tuchfühlung zu diversen gesellschaftlichen Gruppen verloren hat.

Die Schwäche der Regierung ist also die Stärke der AfD?

Die Schwäche der Regierung führt jedenfalls dazu, dass sich eine Art Systemmisstrauen breitmacht. Man hat das Gefühl, dass insgesamt etwas nicht stimmt in Deutschland. Und dass man nicht recht weiss, was es eigentlich ist: Ist es das Desaster der Deutschen Bahn? Ist es der Streit um das Heizungsgesetz? Was ist es eigentlich? Damit kommt die Regierungskoalition im Moment nicht recht zurande. Die AfD muss gar nichts beitragen, um davon zu profitieren. Sie kann das Systemmisstrauen bloss «einsammeln».

Was hat das Treffen zwischen AfD und Rechtsextremen in Potsdam ausgelöst?

Es gibt ein Erschrecken darüber, dass der Flügel von AfD-Politiker Björn Höcke Gewalt als legitimes Mittel nicht mehr ausschliesst. Die AfD ist nicht mehr nur eine Partei, die über Migration oder die Deutsche Bahn anders reden will. Man realisiert, dass es Exponenten der Partei gibt, die alles infrage stellen. Der nihilistische Teil der AfD ist deutlich geworden.

Was halten Sie von einem Verbot der AfD?

Das wäre absolut toxisch, weil damit nur Märtyrer produziert würden.

So ist aber zu befürchten, dass Herr Höcke im Herbst Ministerpräsident von Thüringen werden könnte. Wie ist das erklärbar?

Die Menschen suchen nach einer Perspektive in der Politik. Welche Idee von Staat soll in Deutschland in Zukunft eine Rolle spielen? Welche wirtschaftspolitischen Initiativen sind sinnvoll? In der Migrationspolitik zum Beispiel neigen Teile der SPD eher einer dänischen Lösung zu.

«Die CDU/CSU muss sich bereit machen, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.»

Das heisst, sie fordern eine restriktive Migrationspolitik?

Sie wollen eine Politik der Kontrolle von Zuwanderung. Die Grünen stehen aber für eine komplett andere Migrationspolitik. Sie haben eine stark universalistische Haltung, die das Recht auf Asyl als Menschenrecht betrachtet. Wohin geht nun die Reise? Der Bundeskanzler schweigt sich darüber aus. Wenn die Koalition das nicht hinkriegt, sind Koalitionen von der Art der Ampel für die nächsten 20 Jahre ausgeschlossen.

Der Schlüssel liegt demnach in der Migrationsfrage?

Nein. Seit der Finanzkrise von 2008 wächst bei vielen der Eindruck, dass das System nicht mehr in der Lage ist, die Polykrisen in den Griff zu bekommen. Der Schlüssel ist die ideenpolitische Ausgestaltung der Politik in der nächsten Zukunft. Das betrifft die Regulierung von Zuwanderung, aber auch die Klimapolitik, die Subventionspolitik und die Frage von elementaren Übereinkünften über die «normale Moral» der Gesellschaft.

Die Ampelkoalition hat soziale Konflikte lange mit Geld zugedeckt. Was hat diese Politik bewirkt?

Die von der Regierung praktizierte Sozialpolitik als Entschädigungspolitik ist an ihre finanziellen Grenzen gekommen. Zudem schwächt sie die Solidaritätsbereitschaft in der Gesellschaft. Es gibt eine Art Wettrennen in Deutschland, wer sich am benachteiligsten fühlen darf und auch noch Anspruch auf Entschädigung hat. Das ist kaum die richtige Politik, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Bei vielen Empfängern hat sie das Gefühl ausgelöst, sie würden abgefunden und nicht beteiligt.

Wie soll die deutsche Politik da wieder rausfinden?

Es gibt nur eine Lösung: Die CDU/CSU muss als stärkste Oppositionspartei eine glaubwürdige Alternative zur Ampel aufbauen. Sie muss sich bereit machen, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Das müsste die Ampel dazu bringen, ihr eigenes Programm deutlicher zu formulieren. Es braucht ein Wiederaufleben der parlamentarischen Konkurrenzdemokratie als Alternative zum Zusammenschluss aller gegen die AfD. Letzteres führt auf die Dauer zu einer schwierigen Lage, weil der politische Impuls verloren geht.

Mit wem soll die CDU/CSU das bewerkstelligen?

In Bayern versucht die CSU eine konservative Regierungspolitik unter Einschluss der Freien Wähler zu formulieren. Letztere gab es vor ein paar Jahren noch gar nicht. Solche Bündnisse sind interessant. Die CDU/CSU muss das Potenzial rechts der Mitte einbinden, das nicht zur AfD will. Das könnte die Zugkraft einer neuen Art von Koalition sein.

«Die Menschen können sich selber verführen, indem sie über ihre Wünsche stolpern.»

Die Werteunion hat sich soeben rechts der Mitte gegründet. Man hat aber eher das Gefühl, sie könnte der AfD zur Macht verhelfen.

Deshalb schlägt jetzt die Stunde der Konservativen in Deutschland. Im Unterschied zu Italien oder Frankreich haben wir den Vorteil, dass wir mit der CDU/CSU noch eine starke konservative Partei haben.

Aber es ist einfach nicht ersichtlich, mit wem die CDU/CSU das bewerkstelligen soll.

Diese Frage ist Gift. Die Systemparteien denken immer nur in Koalitionen. Und das ermüdet die Leute. So gibt es nie die Möglichkeit, in ein freies Feld der Möglichkeiten zu blicken. Der Aufstieg der Rechten in den westlichen Gesellschaften gelang, weil sie es geschafft haben, neue Möglichkeiten aufzuzeigen. Zuletzt war das im Neoliberalismus mit der Phrase «Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen» der Fall. Heute ist die Situation vertrackter: Die Boomer wissen noch, was es heisst, dass das Schlimmste hinter einem liegt. Für die kommenden Generationen ist das Grundgefühl, dass das Schlimmste vor einem liegt.

Die AfD hat aber kaum Antworten auf die drängenden Probleme. Und dennoch wählen die Leute rechts. Wie ist das erklärbar?

Es sind eben nicht die Interessen, die die Leute antreiben, sondern die Wünsche. Das ist eine Grunderkenntnis, die gegen jede normale liberale Ökonomie steht. Die Menschen können sich selber verführen, indem sie über ihre Wünsche stolpern und sich in Situationen hineinmanövrieren, wo sie sich im Nachhinein fragen: «Um Himmels willen, wie ist das passiert?»

Der Niedergang der Grünen geschieht zeitgleich mit dem Abschied von den Boomern aus der Arbeitswelt. Zufall oder Koinzidenz?

Das ist Zufall. Die Boomer-Jahrgänge 1955 bis 1970 machen zurzeit fast 30 Prozent der Bevölkerung aus. Sie sind politisch nicht festlegbar. Ihre Lebenserfahrung wäre eigentlich gut geeignet, um mit der jetzigen Situation klarzukommen. Die Boomer wissen von ihren Eltern, dass Krieg möglich ist. Und sie haben auch selber erfahren, dass Dinge wie Tschernobyl oder Aids geschehen können und dass es trotzdem irgendwie weitergeht. Die Millennials hingegen haben das Gefühl, es gibt kein Ende mit allem, obwohl alles zu Ende geht.

Mit 9/11 oder einem Krieg mitten in Europa haben aber auch die Boomer nicht gerechnet.

Den Boomern wurde aber auch vermittelt, dass ein GAU einmal in tausend Jahren geschieht. Sie mussten dann feststellen, dass sie es mindestens dreimal erlebt haben. Die Boomer-Konsequenz ist aber nicht Fatalismus. Sondern die Fähigkeit, mit der Zufälligkeit der menschlichen Existenz konstruktiv umzugehen.

Sie gehen in Ihrem Buch kaum auf die prägende Gefahr eines Atomkriegs in den Achtzigerjahren ein. Warum?

Ich war auch bei Demonstrationen gegen die Stationierung von Pershing-Raketen in Westdeutschland dabei. Aber ich dachte heimlich, man könne die Russen bei der Stationierung ihrer Raketen auch nicht einfach machen lassen.

«Ich bin nicht stolz auf meine Jugend. Ich denke eher: Auwei, was warst du bescheuert.»

Das klingt nach einem späten Eingeständnis?

Mir war das damals auch nicht so klar. Im Rückblick merkt man doch manchmal, dass die Glaubenssätze der Jugend möglicherweise falsch waren. Im Unterschied zu den 68ern kennt unsere Generation zum Glück keine Renegaten. Ich habe nie jemandem vorgehalten, dass er seine politischen Überzeugungen verraten habe. Denn ich weiss, dass die Dinge sich ändern.

Das sagen Sie als ehemaliger Hausbesetzer?

Ich frage mich jedenfalls nicht, ob meine Kolleginnen und Kollegen von damals immer noch Häuser besetzen. Ich frage mich eher, ob sie eine Energie hatten, etwas hinzukriegen. Ob sie versucht hatten, einen Weg zu finden, der plausibel erscheint. Ich will doch heute keine Häuser mehr besetzen. Ich bin nicht stolz auf meine Jugend. Ich denke eher: «Auwei, auwei, was warst du bescheuert.» Es ist eine grosse Kraft, auf seine Jugend nicht stolz sein zu müssen.

Heinz Bude, deutscher Soziologe und Publizist in seiner Wohnung, Berlin, 26.01.2024

Seit dem Bericht des Club of Rome 1972 weiss man um das Umweltproblem. Trotzdem haben die Boomer in Saus und Braus gelebt. Müssen Sie Schuldgefühle haben?

Natürlich haben wir Schuldgefühle. Aber das muss nicht schlecht sein. Wenn ich eines von Willy Brandt gelernt habe, ist es, dass Schuld frei macht. Man muss nicht die anderen anklagen und sagen, die hätten doch auch. Man kann akzeptieren, dass Deutschland den Krieg vom Zaun gerissen hat und dass das Land Weltmeister bei der Vernichtung von Menschen war.

«Scham ist schlecht. Schuld ist viel besser.»

Als praktizierender Katholik haben Sie es da aber leichter und brauchen nur zu beichten. Als Protestant ist es nicht so einfach.

Der Protestantismus hat einen Hang zum Selbstquälerischen. Das zeigt sich exemplarisch im Roman «Mars», der in den späten Siebzigerjahren von einem Zürcher unter dem Pseudonym Fritz Zorn veröffentlicht wurde. Zorn stellt seine Krebskrankheit als Ausdruck von nicht gelebtem Leben dar. Da kommt Scham über die eigene Existenz zum Ausdruck. Scham ist schlecht, Schuld ist viel besser. Schuld ist die Möglichkeit, für die eigenen Taten Verantwortung zu übernehmen. Die Schuldfähigkeit ist eine Bedingung der Möglichkeit einer anderen, besseren Welt.

Muss man dafür auf die Knie gehen wie einst Willy Brandt in Warschau?

Nee. Willy Brandt ist ja auch wieder aufgestanden.