Ungarns OppositionIn voller Breite gegen Orban – «Es ist unsere einzige Chance»
Ein sehr buntes Parteienbündnis von links-progressiv bis rechtsnational will bei der Wahl 2022 Viktor Orbans Regierung ablösen. Kann das gutgehen?
In Budapest werden zurzeit viele Vergleiche mit Israel angestellt. Kann der ungarischen Opposition gelingen, was dem bunten Bündnis gegen Benjamin Netanyahu gelungen ist: eine historische Koalition zu schmieden, die alle politischen Differenzen überwindet und einen langjährigen Ministerpräsidenten aus dem Amt kickt? Und können machtbewusste, populistisch agierende Führer wie Netanjahu – und wie Viktor Orban – in stark polarisierten Gesellschaften nur erfolgreich bekämpft werden, wenn sich die Opposition von links bis rechts gegen sie verbündet und an einem Strang zieht?
In Jerusalem wurde die neue Koalition mit einer Stimme Mehrheit ins Amt gewählt. Immerhin. Davon ist man in Budapest noch weit entfernt – denn, sagt Peter Jakab, Chef der rechtskonservativen Jobbik-Partei: «Wir müssen schon sehr tief graben, um Gemeinsamkeiten zu finden. Aber es ist unsere einzige Chance.»
Fidesz und Opposition sind gleichauf
In zehn Monaten wird in Ungarn gewählt, und so viel ist schon klar: Orban wird es nicht mehr so leicht haben wie bei den letzten drei Urnengängen, die er seit 2010 jeweils bequem gewann, um dann – mithilfe des von Fidesz angepassten Wahlrechts – mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament durchzuregieren.
Die Umfragen zeigen, dass es gelingen kann: Die vereinte Opposition und Fidesz liegen Kopf an Kopf. Sechs Oppositionsparteien treten 2022 als Team an – mit einer gemeinsamen Liste, gemeinsamen Direktkandidaten und einem gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten. Das Spektrum reicht von links-progressiv über grün-liberal bis rechtsnational. Im Sommer sollen in den 106 Wahlkreisen in Urwahlen die Direktkandidaten gekürt werden, im Herbst stellen sich auch die Spitzenkandidaten der einzelnen Gruppierungen einer Urwahl. Ganz schön viel Basisdemokratie, doch zum Schluss kann es nur noch einen oder eine geben, die gegen Orban antritt – und von allen anderen bedingungslos unterstützt wird.
In mehreren Grossstädten, so etwa 2019 in Budapest, verhalf ein Anti-Orban-Bündnis dem grün-liberalen Lokalpolitiker Gergely Karacsony ins Amt des Oberbürgermeisters. Der sagte unlängst auf einer Pressekonferenz: «Fidesz versucht, die Autonomie der Kommunen zu zerstören. Diese Regierung ist kein Partner für mich, sondern ein Gegner.» Orbans PR-Maschine bekämpft den populären Budapester auf persönlicher Ebene – ein seit Langem eingeübtes Muster in Fidesz-Kampagnen: Karacsony sei schwach und weich, ein Schickimicki-Bobo, heisst es, und nichts für die grosse Bühne: Der Mann könne ja nicht mal Englisch.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat Wahlen in Ungarn zuletzt als «frei, aber nicht fair» bezeichnet: zu einseitig ausgerichtet die Medienlandschaft, zu dominant die Rolle von Orbans Partei, die sich Wohlwollen mit öffentlichen Aufträgen und EU-Geldern kaufen kann. Karacsony weiss, dass die Opposition unbedingt deutlich gewinnen muss: Denn sollte Fidesz insgesamt weniger Stimmen bekommen als die Gegner, aber sich mithilfe des ungerechten Wahlsystems die Mehrheit der Sitze verschaffen, dann «wäre das ein extrem harter Test für uns alle. Das ist ja schon hart selbst für sehr starke Demokratien».
Wenn es aber klappt, dann hat Karacsony, der für die Kleinpartei «Dialog für Ungarn» antritt und von den Sozialisten unterstützt wird, wohl die besten Chancen, den Mann herauszufordern, der bis jetzt als unüberwindlich galt. Er könnte in einer Stichwahl als Kompromisskandidat siegen.
Aber auch Klara Dobrev liegt recht gut im Rennen; die 49-Jährige sitzt für die Demokratische Koalition seit 2019 im Europaparlament, während ihre linksliberale Gruppierung in Ungarn von ihrem Mann, dem ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany, angeführt wird.
Dobrev ist eine versierte Politikerin, elegant, vielsprachig. Wenn sie nicht gerade in Brüssel arbeitet, fährt sie neuerdings über die Dörfer: «Fidesz erreicht mit Klientelpolitik nur noch einen Bodensatz von Stammwählern», sagt sie und will als Frau eines Millionärs demonstrativ mit Sozialpolitik und Bildung punkten. «Unter Orban sind die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden.»
Ein Pferdefuss von Dobrevs Kampagne ist ihr Parteichef und Ehemann: Ex-Sozialist Gyurcsany hatte 2006 in einer berühmt gewordenen «Lügenrede» vor Parteifreunden eingeräumt, man habe die Öffentlichkeit jahrelang belogen; danach kam es bei Massenprotesten zu einem brutalen Polizeieinsatz. Seither ist er sehr unpopulär; Fidesz-nahe Medien halten die Erinnerung an den Sündenfall vor 15 Jahren wach und stellen seine Frau als «Marionette» ihres Mannes hin. Wer immer gegen Orban ist, singt laut Fidesz im «Gyurcsany-Chor».
Dobrev gibt sich unbeeindruckt. «Trotz dieser Hasspolitik sind wir stärkste Partei», sagt sie; die Kampagne sei nur ein Zeichen dafür, dass Orban Panik schiebe.
Jüdische Wurzeln – und früher rechtsextrem
Dafür will auch Jobbik-Kandidat Peter Jakab sorgen. Der gelernte Lehrer und alerte Parteichef hat jüdische Wurzeln; sein Urgrossvater wurde in Auschwitz ermordet, er selbst wirbt für Toleranz und die EU. Aber Jobbik war bis vor einigen Jahren rechtsextrem, antisemitisch, rassistisch. Damit sei es lange vorbei, beteuert Jakab in seinem Hinterhofbüro im Zentrum der Hauptstadt: «Wir sind konservativ. Wir repräsentieren die Gesamtheit der Nation.»
Jakab, ein selbstbewusster 40-Jähriger mit scharf ausrasiertem Bart, tritt im Parlament betont aggressiv gegen Orban auf; er präsentiert sich als starker Mann. Aber er beteuert: Der wirklich scharfe Hund, der wahre Rechtsextreme – das sei Viktor Orban. Der, nicht Jobbik, säe Hass, sei homophob, rassistisch, nationalistisch, baue an seiner «illiberalen Demokratie». Stimmt, sagt Dobrev: «Niemand ist extremer als Fidesz. Jobbik hat sich, seit die Partei an Bord ist, keine Ausfälle mehr geleistet.»
Jakab, Dobrev, Karacsony, auch die anderen, wohl chancenlosen Kandidaten der kleinen Parteien wie LMP und Momentum – jeder im Sechserpack hofft auf den Sieg. Der Entwurf für das gemeinsame Programm läuft unter dem Slogan «Epochenwechsel»: unabhängige Justiz und gestärkte Pressefreiheit, mehr Transparenz und starke demokratische Institutionen. Die Verfassung, mit der die Macht der Fidesz-Elite festgeschrieben wurde, soll nach einem Referendum ersetzt werden. Darüber vor allem wird diskutiert: Braucht es nach einem Wahlsieg moderate Reformen – oder gleich radikale Lösungen, gleichsam eine politische Revolution, um das Orban-System zurückzudrehen?
Zukunftsmusik. Fidesz ist schon im verschärften Wahlkampfmodus. Orbans Politik funktioniert nur in Schwarz und Weiss. Jetzt hat er das Flüchtlingsthema wieder ausgepackt; Zuwanderung soll für zwei Jahre ganz verboten werden. Er verteilt viel Steuergeld: Familien könnten im kommenden Jahr ihre komplette Einkommensteuer zurückbekommen, junge Leute sollen erst gar keine zahlen. Alles natürlich wirksam im Wahljahr. Der Ministerpräsident, berichten ungarische Medien, wolle sich ein neues Image geben, künftig «nahbarer» werden, sich unters Volk mischen und ab und zu auch mal «Selbstkritik äussern.»
Der ewige Sieger spürt den neuen Gegenwind: Die Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn und Polen steht bevor. Der Austritt aus der Europäischen Volkspartei hat viel Einfluss gekostet. Orbans politischer Spielraum in der EU hat sich weiter verringert. Darauf setzen seine Gegner. «Das Wirtschafts- und Medienimperium von Fidesz ist abhängig von öffentlichen Geldern», sagt Gergely Karacsony, «sollte der Geldfluss austrocknen, wäre Orbans Stern schnell verglüht.» Peter Jakab droht, nach einem Wahlsieg umgehend der Europäischen Staatsanwaltschaft beizutreten, um den Korruptionssumpf auszutrocknen. Und Klara Dobrev will «nicht nur die Regierung ändern, sondern gleich das ganze System.»
Jetzt müssen sie nur noch geschlossen über den Sommer kommen. Und dann über den Winter. Und dann müssen sie auch noch siegen.
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