Regionalwahlen in RusslandIn Sibirien wählen sie schlauer, als es der Kreml erlaubt
Bei den russischen Kommunalwahlen wird die Opposition kleingehalten. Doch die Menschen finden Mittel und Wege, um ihrem Unmut Luft zu machen. Zum Beispiel in Irkutsk.
Einen Oppositionskandidaten stellt man sich anders vor: Michail Schtschapow war früher Geheimdienstler, jetzt sitzt er in der Staatsduma in Moskau. In Irkutsk tritt er nun bei den Gouverneurswahlen an. Schtschapow ist Mitglied der kommunistischen Partei KPRF, die oft mit der Regierungspartei kooperiert, Scheinkandidaten in Wahlen schickt. Trotzdem ist er dieses Wochenende die grosse Hoffnung der Kremlkritiker. Denn Schtschapow könnte schaffen, was in Russland selten gelingt: Er könnte den Kreml-Kandidaten aus dem Amt werfen. Offenbar macht ihn das nervös.
Den Amtsinhaber hatte Moskau geschickt, er kommt nicht aus Irkutsk. Genau die Art von Bevormundung, welche die Menschen im Osten wütend macht. Irkutsk in Sibirien kennt man für den Baikalsee und für die Aufmüpfigkeit seiner Bewohner. Denn die «reagieren sehr negativ auf alles, was von oben aufgezwungen wird», sagt Igor Ukrainzew vom Fonds Sibirische Politik. Neben Irkutsk wird in 82 weiteren russischen Regionen dieses Wochenende gewählt.
«Unsere Menschen sind hier freier»
Nicht nur in Irkutsk wächst der Widerstand gegen den Kreml, aber in Sibirien haben Oppositionelle generell grössere Chancen als anderswo. Chabarowsk im Fernen Osten, wo es dieses Jahr keine Wahlen gibt, fordert den Kreml anders heraus: Dort demonstrieren Menschen seit Juli täglich. Auslöser war, dass ihr Gouverneur festgenommen und und durch einen Mann von Moskaus Gnaden ersetzt wurde. Längst fordern die Demonstrierenden ein Russland ohne Wladimir Putin. Ein paar Hundert Irkutsker haben gleich solidarisch mitdemonstriert.
«Unsere Menschen sind hier freier», sagt Sergei Bespalow, der seit den Neunzigern in der Politik ist und seit einiger Zeit im Team von Alexei Nawalny mitarbeitet, dem vergifteten Kreml-Kritiker, der in der Berliner Charité liegt. «Irkutsk stimmt für die Opposition, weil hier viele Kluge und viele Arme sind. Sehr oft sind es dieselben Menschen.» Irkutsk ist eigentlich eine reiche Region, es gibt Gold und Öl, Aluminiumproduktion, Luftfahrtindustrie, Tourismus. Über die Interessen der Oligarchen stolpern viele Gouverneure, in der letzten Dekade hat es keiner bis ans Ende seiner Amtszeit geschafft. Die Irkutsker haben gelernt, dass sich Machtverhältnisse ändern können, ohne dass die Welt zusammenbricht. Soziologen sprechen von einer «Desakralisierung der Macht».
Der Weg zu Bespalows Stabssitz führt über den zentralen Markt in Irkutsk, Gemüse aus der Region, Honig für die Touristen, Fleischpiroggen gibt es hier zu kaufen. Wenn man die Leute auf die Wahl anspricht, winken viele ab. Zwei ältere Verkäuferinnen sagen, dass sie natürlich für die Regierungspartei stimmen, für Einiges Russland. Die jungen Angestellten in einem Café halten sich ans das «schlaue Abstimmen».
Dieses Prinzip hat der vergiftete Nawalny erfunden, Bespalow leitet dessen Stab in Irkutsk. Beim «schlauen Abstimmen», erklärt er, rechnen sie aus, wer die besten Chancen gegen den Kreml-Kandidaten hat. In der zweiten Wahlrunde läuft das auf den Kommunisten Schtschapow hinaus. Eine Protestabstimmung, keine Herzensangelegenheit. So ist das oft bei russischen Wahlen: Unabhängige Politiker dürfen nicht antreten. Kritiker wählen daher zum Trotz den Kandidaten der vom Kreml gelenkten Opposition. Die Regierungspartei hat es so immer schwerer, ihre Kandidaten durchzusetzen. In Irkutsk ist das Amtsinhaber Igor Kobzew. Allen, die sich Veränderung wünschen, lassen solche Wahlen kaum Luft für Unmut. Aber der wächst.
Auch Nawalny-Mitarbeiter Bespalow wird also wohl oder übel für den Kommunisten stimmen. Er nennt ihn einen «komischen Mann» ohne politisches Programm. Schtschapows Strategie sei, nicht aufzufallen. «Er tut so, als ob er nicht da ist», sagt Bespalow. «Aber alle verstehen: Das liegt nur daran, dass er Angst hat, von der Wahl ausgeschlossen zu werden.»
«Alexei ist der einzige Mensch, der die Kreml-Partei Einiges Russland brechen kann.»
Bespalow ist selbst schon angetreten, auch bei der letzten Duma-Wahl. Doch nun läuft ein Strafverfahren gegen ihn. Wenn er verurteilt wird, kann er sich ähnlich wie Nawalny bei keiner Wahl mehr registrieren. Repressionen ist er gewöhnt, hat mehrere Ordnungsstrafen im Gefängnis abgesessen, weil er zu Protesten aufgerufen hat. 2018 waren es 67 Tage hinter Gittern, 2019 machte er dann Pause vom Nawalny-Team.
Dass der Kremlkritiker vergiftet wurde, hat für ihn mit den Wahlen zu tun. «Die Opposition bekommt mehr Stimmen als sonst. Die nationalen Parlamentswahlen sind schon sehr bald. Und Alexei ist der einzige Mensch, der die Kreml-Partei Einiges Russland brechen kann.» Dass die Regionalwahlen nun ohne Nawalny stattfinden, «das kostet die Opposition Zehntausende Stimmen», sagt er. Doch sie bekämen jetzt viele Anrufe von Leuten, die Nawalny zwar eigentlich nicht unterstützen, aber auch sagen: «So was darf nicht passieren.»
Jewgeni Jumaschew, 47, ist Bürgermeister in der kleinen Stadt Bodaibo in der Region Irkutsk. Beim Skype-Interview sitzt er vor einer Russlandfahne. Nach 13 Jahren als Bürgermeister zählt er sich nicht zur Opposition. Für die Gouverneurswahl sammelte er 30’000 Unterschriften – drei Mal mehr als nötig. Doch die Wahlkommission behauptete, zu viele seien gefälscht.
«Obwohl ich ruhig und still war und mit der Registrierung gerechnet habe, meinte der Kreml, dass ich seinem Kandidaten schade.» Jumaschew wurde nicht zugelassen. Und nun ist er nicht mehr still. Er habe dem Amtsinhaber ins Gesicht gesagt, «dass ihn niemand im Irkutsker Gebiet sehen will». Er habe verstanden, dass er ein grosses Risiko eingehe, aber in Sibirien gebe es für Menschen ohne Rückgrat keinen Platz.
Sibirien fühlt sich ausgebeutet wie eine Kolonie
Jumaschew beschreibt eine Unzufriedenheit, von der man in Sibirien häufig hört: das Gefühl, von Moskau wie eine Kolonie behandelt zu werden. «Wir gewinnen Gold», sagt Jumaschew über seine Stadt. Doch von den Steuereinnahmen blieben weniger als zehn Prozent in der Region, das meiste gehe nach Moskau. «Die Bewohner sagen zu mir: Wo sind die guten Strassen? Warum kosten Flugtickets so viel? Das ist ungerecht.»
Er will nun für Schtschapow stimmen, was bleibt ihm übrig. «Ich kenne ihn persönlich nicht, und ich habe den Eindruck, dass er nicht vorhat, bei der Wahl zu gewinnen», sagt er über den Kommunisten. Anders formuliert: Die Opposition zwingt ihm seine Rolle quasi auf. So kompliziert kann Widerstand in Russland sein.
Michail Schtschapow lässt sich nicht zum Interview überreden. Er schickt dafür seinen Wahlkampfmanager Alexei Kozmin vor. Der Wahlkampfstratege erklärt, dass Schtschapow sein Freund sei, er selbst aber nicht in der Partei. Er sagt, was die Mehrheit der Irkutsker sicher unterschreiben würde: «Das System ist nicht fair, wir müssen beinahe alles Geld nach Moskau überweisen.» Moskau überweist dann einen Teil zurück – so hält es die Regionen unter Kontrolle.
Sein Kandidat wünsche sich mehr Handlungsspielraum in der Region, aber Unabhängigkeit sei das falsche Wort dafür. Er wolle arme Leute stützen, mehr Arbeitsplätze schaffen, die Lebensqualität erhöhen, alles Dinge, die auch Präsident Putin verspricht. Natürlich sei Schtschapow in der Opposition, sagt der Wahlkampfmanager, aber eben ein Oppositioneller innerhalb des Systems.
Hammer, Sichel und Stalinporträt
Und was hält er von Nawalnys schlauem Wählen? «Das sind deren Regeln, da geht es nicht um Michail Schtschapow.» Wenn sein Kandidat so gewinnt, bitte schön. Es sei ja auch nicht gut, sagt der Wahlkampfmanager, wenn eine Partei zu lang regiere: Die Geschichte lehre, «dass wir dann in einer grossen Krise enden».
Inzwischen ist es später Abend, vorm Café steht ein altes Wahlkampfauto, die Fahne mit Hammer und Sichel weht vom Dach, ein Stalinporträt klemmt daran, kommunistische Nostalgie. Zumindest eine Partei kann bei der Wahl offenbar nicht verlieren.
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