Johnson droht ein Misstrauensvotum«In Gottes Namen, Mann, treten Sie ab!»
Mehrere Tory-Abgeordnete wollen Premier Boris Johnson loswerden. Dieser gibt sich kämpferisch – und kündigt die Abschaffung praktisch aller Covid-Restriktionen für England an.
Der britische Regierungschef Boris Johnson wird zunehmend in die Enge gedrängt. Immer mehr Tory-Parlamentarier sagen sich von ihm los. Just vor der wöchentlichen Fragestunde des Premierministers gab der Abgeordnete Christian Wakeford bekannt, dass er aus Protest gegen Johnson von den Konservativen zur oppositionellen Labour Party übertrete. Wakeford erklärte, Johnson habe sich «unfähig» gezeigt, dem Land die Art von Führung zu bieten, «die es verdient». Andere Tory-Politiker haben schon offen nach Johnsons Rücktritt gerufen.
Dutzende bereiten ein Misstrauensvotum in der Fraktion gegen ihn vor. Unter anderen hat Douglas Ross, der Chef der schottischen Torys, verlangt, dass Johnson sein Amt abgibt. Als bislang prominentester Hinterbänkler forderte während der Fragestunde der frühere Brexit-Minister David Davis den Premier zum unverzüglichen Amtsverzicht auf: «In Gottes Namen, Mann, treten Sie ab!» Mittlerweile sei der Abgang Johnsons «keine Frage des Ob, sondern nur noch eine des Wann», versicherten zahlreiche Tories britischen Reporterinnen und Reportern.
Misstrauensvotum wird wahrscheinlicher
Zusehends erwarten Kritiker Johnsons in der Regierungspartei, dass sich der Premier einer Vertrauensfrage stellen muss. Manche wollen allerdings aus taktischen Gründen warten, bis der von der Staatsbeamtin Sue Gray erarbeitete Bericht zu Lockdown-Verstössen durch die Regierung vorliegt. Das ist voraussichtlich nächste Woche der Fall. Oppositionsführer Sir Keir Starmer, der Vorsitzende der Labour Party, warf Johnson noch einmal vor, mit munteren Festen während der Lockdown-Zeit das Gesetz gebrochen und seither Parlament und Nation belogen zu haben.
Mehr als ein Dutzend solcher Zusammenkünfte, die Sue Gray jetzt untersucht, sollen in der betreffenden Zeit stattgefunden haben. Vor allem die beiden Partys, die in No. 10 Downing Street am Vorabend des Begräbnisses von Prinz Philip gefeiert wurden, hielt Starmer Johnson erneut vor. Der Regierungschef entschuldigte sich wiederum für «Fehler, die in der Regierungszentrale gemacht wurden». Grund für einen Rücktritt sah er aber nicht.
«Ich bin unerhört stolz auf das, was meine Regierung zustande gebracht hat.»
Stattdessen gab sich Boris Johnson wieder betont kampflustig. In einer ausgesprochen turbulenten Fragestunde lehnte er eine weitere Auseinandersetzung um die Lockdown-Partys schlichtweg ab und strich stattdessen heraus, wie viel seine Regierung in der Pandemie, vor allem mit ihren Impfkampagnen, geleistet habe: «Ich bin unerhört stolz auf das, was meine Regierung zustande gebracht hat.» In diesem Zusammenhang enthüllte der Premier einen Kabinettsbeschluss vom selben Morgen zur Abschaffung aller Anti-Omikron-Restriktionen, die im Dezember in England verhängt worden waren. Zu den – relativ geringfügigen – Massnahmen gehörten die Maskenpflicht in Geschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln, eine Empfehlung zur Arbeit von zu Hause aus und die Vorzeigepflicht für einen Covid-Pass beim Besuch von Grossveranstaltungen aller Art.
Keine dieser Vorschriften ist vom nächsten Mittwoch an mehr gültig. Und vom 24. März an, «oder vielleicht sogar früher», soll auch niemand mehr nach einem positiven Test gesetzlich zur Selbstisolation verpflichtet sein. Damit wären binnen weniger Wochen praktisch alle Covid-Schutzmassnahmen aufgehoben. London habe mal wieder «einen anderen Pfad» als ein Grossteil Europas gewählt, sagte Johnson dazu. Im Unterhaus löste die Bekanntgabe dieser Rückkehr zu einem «normalen Leben» Jubel in den konservativen Reihen aus.
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Bei der Opposition wurde die Vermutung laut, Johnson führe dieses Ende der Restriktionen im Eiltempo nur herbei, «um die eigene Haut zu retten». Expertinnen und Experten äusserten Bedenken, dass Johnsons Lockerungspolitik ernste Risiken berge. Saffron Cordery vom Klinikverband NHS Providers warnte, die Omikron-Welle sei «noch nicht vorbei», und «eine zweite Omikron-Welle» sei nicht auszuschliessen. Während die Infektionszahlen in letzter Zeit auf den Britischen Inseln kontinuierlich gefallen sind, hat sich nach Angaben des Statistischen Amts vergangene Woche allein in England noch immer jeder Zwanzigste angesteckt. Zurzeit liegen in Grossbritannien insgesamt rund 20’000 Patienten mit Covid in den Spitälern.
Dass der Verzicht auf Covid-Restriktionen Johnsons Hinterbänkler ausreichend besänftigen werde, bezweifelten die meisten Beobachterinnen und Beobachter in Westminster. Die Stimmung in der Regierungspartei sei zuungunsten Johnsons «dramatisch umgeschlagen», berichteten Minister, die ungenannt bleiben wollten, den Medien. Johnson sei mittlerweile «echt in Gefahr». Sowohl Brexiteers der alten Garde als auch Dutzende jüngerer Abgeordneter aus den nord- und mittelenglischen Wahlkreisen trafen sich zu Unterredungen, um über die Absetzung Johnsons zu beraten.
Einige rieten dazu, Johnson noch eine Chance, zumindest bis zu den landesweiten Kommunalwahlen im Mai, zu geben. Andere drängten auf seine sofortige Ablösung. Um eine Misstrauensabstimmung gegen den Parteichef zu erzwingen, müssen mindestens 15 Prozent der Fraktion, also 54 Abgeordnete, dies vom Fraktionskoordinator Sir Graham Brady verlangen. Brady nimmt Anträge entgegen, bis die Zahl 54 erreicht ist. Danach wird, eventuell schon am nächsten Tag, eine Abstimmung angesetzt, bei der mindestens die Hälfte der Fraktion – 180 Abgeordnete – gegen den Amtsinhaber stimmen müsste.
Damit wäre Johnsons Schicksal besiegelt. Würde er aber siegen, wäre zwölf Monate lang keine neue Abstimmung möglich. Sollte es zu einer solchen Kampfabstimmung kommen, sagte Johnson dazu gestern, würde er sich ihr auf jeden Fall stellen. Er sei für den Job an der Spitze weiterhin «der beste Mann».
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