Asylunterkunft im AargauSVP-Regierungsrat entschuldigt sich für Rauswurf der Mieter
Im Fall Windisch tönt auf einmal alles anders. Auch ohne Flüchtlinge hätten die 49 Mieter und Mieterinnen die Kündigung erhalten, sagt der Hauseigentümer. Und der Kanton macht ein Versprechen.
Seit zwei Tagen empört sich die Schweiz über den Fall Windisch. Dort erhielten letzte Woche 49 Menschen in 32 Wohnungen die Kündigung – angeblich wegen 100 Flüchtlingen, die an ihrer Stelle hier unterkommen sollen. So war bisher die Wahrnehmung (lesen Sie hier mehr darüber).
Doch jetzt gibt es an dieser Darstellung erhebliche Zweifel.
Urheberin dieser Darstellung war die Gemeinde Windisch, die den Fall am Montag publik gemacht hatte. «Um die Asylsuchenden unterbringen zu können, hat der Eigentümer der Liegenschaften die Mietverträge der bisherigen 49 Mieterinnen und Mieter per Ende Juni gekündigt», schrieb die 7700-Seelen-Gemeinde in einer Medienmitteilung, die von der Gemeindepräsidentin Heidi Ammon (SVP) persönlich unterzeichnet war.
Diese Darstellung stimme so nicht, sagt jetzt die Immobilienfirma 1drittel Aleph AG, die die drei Altbauhäuser in Windisch besitzt. Der Eigentümer, B.W. (Name der Redaktion bekannt), hatte sich bisher nicht geäussert. Doch am Dienstagabend nahm er gegenüber dem «Regionaljournal» von Radio SRF schriftlich Stellung.
Die Häuser werden abgebrochen
Die 32 Wohnungen in drei Häusern, so der Eigentümer, seien in einem baulich schlechten Zustand und müssten abgebrochen werden. Anschliessend soll an ihrer Stelle ein Neubau entstehen. Nur deswegen, argumentiert der Eigentümer laut SRF, habe man den Mietern gekündigt – und nicht wegen Flüchtlingen.
Doch dann habe ihn der Kanton Aargau angefragt, ob er die Häuser vor dem Abbruch als Flüchtlingsunterkunft nutzen könne. «Da die Hauseigentümerschaft es bedauern würde, im aktuellen Wohnungsmarkt die Liegenschaft für gegebenenfalls längere Zeit ganz oder teilweise leer stehen zu lassen, erachteten wir eine solche Zwischennutzung (...) als sinnvoll und schützenswert», schreibt der Hauseigentümer in seinem schriftlichen Statement. Im Übrigen bedaure er die Kündigungen, weil die Folgen für die Betroffenen schwierig sein könnten.
Das heisst: Laut der Firma ist nicht die geplante Flüchtlingsunterkunft der Grund für die Kündigungen, sondern der geplante Abbruch der Häuser. Allenfalls erfolgten die Kündigungen etwas früher, als sie ohnehin erfolgt wären.
Wie kam es also zur Darstellung der Gemeinde, wonach die Flüchtlinge der alleinige Grund für die Kündigungen seien?
Gemeinde rechtfertigt sich
Gemeindepräsidentin Heidi Ammon sagt auf Anfrage, die 1drittel Aleph AG habe die drei betroffenen Häusern erst im Herbst 2022 gekauft. Die Gemeinde sei wegen der Häuser erst Ende Januar ein erstes Mal vom Kantonalen Sozialdienst kontaktiert worden, der zum Departement ihres SVP-Kollegen Jean-Pierre Gallati gehört. Dabei habe der Sozialdienst darüber informiert, dass an der Mülligerstasse/Zelglistrasse in Windisch eine Unterkunft für Asylsuchende geplant sei.
Die Gemeindepräsidentin lud darauf den Kanton zu einem runden Tisch ein, der am 17. Februar stattfand. Die Gemeinde habe schon da ihr Missbehagen kundgetan, sagt Ammon. Mieterinnen und Mieter auf die Strasse zu stellen und damit aus dem sozialen Umfeld zu reissen, sei nicht nachvollziehbar – zumal in Windisch kostengünstige Wohnungen Mangelware seien.
Doch wenige Tage später bekamen die Mieter die Kündigung per Ende Juni – nicht vom Kanton, sondern von der Hauseigentümerin, der 1drittel Aleph AG.
Erst am Dienstag, sagt Ammon, habe sie in einem Gespräch mit dem Eigentümer der Firma, B.W., erfahren, dass er die sanierungsbedürftigen Liegenschaften abreissen und durch einen Neubau ersetzen wolle. Dass den jetzigen Mietern früher oder später gekündigt werde, sei somit klar. «Weshalb aber den Mietern bereits gekündigt worden ist, ist nicht nachvollziehbar», so Ammon.
Ammon kritisiert auch die Art und Weise der Kommunikation seitens Kanton. Mit dem Grundeigentümer habe sie sich nun auf eine persönliche Information der Mieterinnen und Mieter einigen können. Eine Informationsveranstaltung für die 49 Betroffenen sei noch für diese Woche geplant. Dabei sollen auch Vertreter der Gemeinde und des kantonalen Sozialdienstes teilnehmen.
Gallatis Mea Culpa
Am Mittwochabend äusserte sich – nach tagelangem Schweigen – erstmals der zuständige Regierungsrat Jean-Pierre Gallati zu dem Fall. In einem Communiqué bittet der SVP-Politiker «die betroffenen Mieterinnen und Mieter sowie den Gemeinderat Windisch um Entschuldigung».
Das Departement sei bei der Evaluation der Liegenschaft «von falschen Annahmen» ausgegangen und habe darum «den Auswirkungen der Kündigungen der Mieterinnen und Mieter keine Beachtung geschenkt», heisst es in der Medienmitteilung. Nun wolle man zusammen mit der Gemeinde Windisch und dem Eigentümer der Liegenschaft «eine Lösung für die Betroffenen suchen». Ziel sei, dass die Menschen in ihren Wohnungen bleiben könnten, bis sie eine Ersatzlösung hätten, schreibt das Departement Gallati.
Erstmals sagt der Kanton auch, was er mit den Wohnungen genau machen will: Sie sollen zu einer Unterkunft für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) umfunktioniert werden. Für solche UMA brauche der Kanton im Laufe des Jahres 2023 voraussichtlich 160 bis 180 zusätzliche Plätze. Die Suche nach dafür geeigneten Liegenschaften sei aber anspruchsvoll.
Schon mit dem alten Eigentümer der Liegenschaft in Windisch sei das Departement wegen einer solchen UMA-Unterkunft in Kontakt gestanden. Nun sei die neue Eigentümerin bereit gewesen, die Wohnungen für die Asylunterkunft zur Verfügung zu stellen – das ist das, was der Eigentümer als Zwischennutzung beschreibt.
Warum Immobilienfirmen so etwas machen
Gemeindepräsidentin Ammon lässt das Argument mit der Zwischennutzung aber nicht gelten: «Wohnungen in diesem günstigen Preissegment muss man so lange wie möglich bewohnt lassen», sagt sie. Dass die Wohnungen stattdessen für eine Zwischennutzung vermietet würden, könne sie «nicht nachvollziehen».
Dass Kündigungen so lange vor dem Baustart ausgesprochen werden, hat laut Rechtsanwalt Peter Nideröst oftmals mit der Furcht der Vermieter vor Verzögerungen zu tun. Nideröst ist spezialisiert auf Mietrecht und Vertrauensanwalt des Mieterverbandes. Die Sicherheit zu haben, dass ein Haus zum Zeitpunkt des geplanten Abrisses tatsächlich leer ist, sei für viele Vermieter entscheidend. Denn die Kosten für einen verzögerten Baustart seien oft um ein Vielfaches höher als entgangene Einnahmen durch zwischenzeitlich leer stehende Wohnungen.
Laut Entscheiden des Bundesgerichts brauche es für so eine Kündigung aber ein spruchreifes Bauprojekt, sagt Nideröst. Liege das noch nicht vor, hätten Mieterinnen und Mieter gute Chancen, Kündigungen anzufechten oder Fristerstreckungen zu erhalten. Wie weit das Projekt in Windisch fortgeschritten ist, dazu äussert sich der Eigentümer bislang nicht. Die Gemeinde hat jedenfalls noch keine Baueingabe erhalten.
Laut Anwalt Nideröst dauern Zwischennutzungen im Normalfall einige Monate und werden allenfalls verlängert, wenn sich ein Baustart aus irgendwelchen Gründen verzögert. Der Zwischennutzer – hier der Kanton Aargau – garantiert in einem Vertrag, das Objekt bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu räumen.
Ein Kanada-Schweizer steht dahinter
Ob dieser Plan in Windisch aufgeht, ist allerdings offen. Der Kanton will die Liegenschaft offenbar mehrere Jahre als Asylunterkunft zwischennutzen. In einer solchen Konstellation erhöht sich laut Niederöst die Chance der aktuellen Mieterschaft, länger in ihren Wohnungen zu bleiben. Denn die Ankündigung einer unüblich langen Zwischennutzung mache es für die Mieter einfacher, den Kündigungsgrund erfolgreich anzufechten.
Die Immobilienfirma 1drittel Aleph AG gehört dem 36-jährigen Zürcher Unternehmer B. W., der offenbar ursprünglich aus Kanada stammt, aber inzwischen auch das Schweizer Bürgerrecht besitzt. Er betreibt zahlreiche Firmen. Im Handelsregister findet sich mehr als ein halbes Dutzend Firmen, die auf Immobiliengeschäfte hinweisen. Sie befinden sich mehrheitlich in Zürich und im steuergünstigen Wollerau SZ.
Darunter auch ein Unternehmen, das sich auf Küchen- und Badeinrichtungen spezialisiert hat. Eine seiner Firmen, die sich wie die 1drittel Aleph AG auch auf die Entwicklung von Immobilien ausgerichtet hat, hatte einst auch eine Website. Auf der unterdessen nicht mehr abrufbaren Site hiess es: «Da wir ständig Ausschau nach neuen Häusern halten – Mehr- oder Einfamilienhäuser –, freuen wir uns über Ihre Ideen, denn damit helfen Sie uns, zu wachsen.» Das Unternehmen, so hiess es auf der Website, sei hoch motiviert, gut erhaltene Immobilien zu möglichst günstigen Preisen zu kaufen – um sie später weiterzuverkaufen.
Eine erste Version des Artikels wurde am Abend des 1. März 2023 um die Stellungnahme des aargauischen Gesundheits- und Sozialdepartements von Regierungsrat Jean-Pierre Gallati ergänzt.
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