Illegale AdoptionenSchweizer Behörden schauten jahrzehntelang weg
Das Problem der unrechtmässigen Adoptionen in den vergangenen Jahrzehnten ist laut einer Studie weit grösser als bisher bekannt. Tausende Kinder dürften betroffen sein.
Den Stein ins Rollen gebracht haben die Untersuchungen zu Adoptionen aus Sri Lanka. Dabei stellte sich vor drei Jahren heraus, dass viele Kinder aus Sri Lanka unrechtmässig adoptiert worden waren. Nun wird klar: Sri Lanka ist kein Einzelfall. Auch aus anderen Ländern wurden Kinder adoptiert, die gekauft oder den Eltern weggenommen worden waren. Das zeigt ein Bericht der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Auftrag des Bundes.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse des neuen Berichts?
Die Forscherinnen und Forscher haben das Bundesarchiv nach Dokumenten der 1970er- bis 1990er-Jahre aus zehn Herkunftsländern durchforstet: Bangladesh, Brasilien, Chile, Guatemala, Indien, Kolumbien, Korea, Libanon, Peru und Rumänien. Sie gelangen zum Schluss, dass es auch für diese Länder zahlreiche Hinweise auf illegale Praktiken, Kinderhandel, gefälschte Dokumente und fehlende Herkunftsangaben gibt.
Wie viele Kinder wurden unrechtmässig adoptiert?
Das ist unbekannt. Die Forscherinnen und Forscher gehen aber auf Basis der Einreisebewilligungen davon aus, dass im untersuchten Zeitraum mehrere Tausend Kinder unrechtmässig adoptiert wurden. Der Bericht sei eine Basis für weitere Forschung, sagt Nadja Ramsauer von der ZHAW. Um herauszufinden, ob Kinder, in deren Adoptionsunterlagen etwa die Zustimmung der leiblichen Eltern fehlt, diesen weggenommen wurden, muss jeder einzelne Fall untersucht werden. Klar ist aber, dass es viele lückenhafte Dokumente gibt – und dass die Schweizer Behörden Hinweise hatten auf illegale Praktiken.
Welche Hinweise auf illegale Praktiken hatten die Behörden?
Laut dem Bericht schickten beispielsweise Schweizer Botschaften Zeitungsartikel über Kinderhandel nach Bern. Ein Artikel von 1987 berichtete von der Verurteilung eines brasilianischen Anwalts, der während Jahren Kinder illegal an Adoptiveltern vermittelt haben soll, darunter auch in die Schweiz. Für jedes Kind habe er 8000 US-Dollar erhalten. Auch Dokumentenfälschungen waren bekannt. So erbat etwa der Vizekonsul in Rio de Janeiro bereits 1970 eine Stellungnahme aus Bern wegen gefälschter Geburtsscheine. Die Behörden in Bern antworteten auf Hinweise dieser Art, die Überprüfung dieser Dokumente sei nicht Aufgabe der Schweizer Botschaften.
Warum haben die Behörden damals nichts unternommen?
Ein Grund dafür ist, dass viele Behörden involviert waren, aber keine sich zuständig fühlte. Das Adoptionsverfahren sei zersplittert gewesen, sagt Michael Schöll, der Direktor des Bundesamtes für Justiz. Auch das gesellschaftliche Klima spielte eine Rolle. Der Konsens sei damals gewesen, dass die Kinder es in der Schweiz besser hätten, sagt Nadja Ramsauer. Das zeigt auch die Antwort der Schweizer Botschaft in Chile auf eine Anfrage von Adoptionswilligen. Die Botschaft schrieb: «Zur Zeit ist es sehr schwierig, kleine, gesunde Kinder aus Chile zu adoptieren. (...) Wir sind jedoch immer sehr bemüht, auch neue Möglichkeiten zu prüfen, denn Kinder, die eine Mutter und einen Vater brauchen, wird es immer geben. Wir wollen diesen Kindern helfen, denn jedes Kind auf unserer Erde hat das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein sowie auf Elternliebe!»
Wussten die Adoptiveltern Bescheid?
In manchen Fällen waren Adoptiveltern in illegale Aktivitäten wie Dokumentenfälschung involviert, in anderen waren sie blauäugig oder wurden getäuscht. In Indien vermittelte beispielsweise eine katholische Ordensschwester aus der Schweiz indische Kinder zur Adoption. 1981 sagte sie bei der Übertragung der Vormundschaft für ein indisches Baby an ein Schweizer Paar, das Baby sei vor ihrem Heim ausgesetzt worden. Später stellte sich heraus, dass das Kind der Mutter durch eine Täuschung weggenommen worden war. Der Pflegevater zeigte sich erstaunt. Er war mit der Rückgabe des Kindes einverstanden, wünschte aber, dass der Vertrauensanwalt der Schweizer Botschaft in Delhi bei seiner nächsten Reise in die Schweiz «ein anderes, etwa gleichaltriges Kind mitbringt».
Wie reagiert der Bundesrat auf die neuen Erkenntnisse?
Der Bundesrat drückt sein Bedauern aus. Und er will sicherstellen, dass solches nicht mehr passieren kann. Auch wenn die Risiken dank internationaler Abkommen inzwischen kleiner sind, plant er eine Revision der Gesetzgebung zu den Auslandsadoptionen. Eine Expertengruppe soll bis Ende 2024 die Optionen vertieft abklären. In einem Zwischenbericht schlagen die Expertinnen und Experten zwei Varianten vor: Entweder soll die Schweiz die Möglichkeit von Adoptionen aus dem Ausland einschränken oder diese gänzlich verbieten. Ein Verbot hat bislang kein Land erlassen.
An wen können sich Adoptierte wenden, die nach ihren leiblichen Eltern suchen?
Für die Unterstützung Betroffener bei der Herkunftssuche sind die Kantone zuständig. In jedem Kanton gibt es eine «Zentralbehörde Adoption», an die sich Betroffene wenden können. Daneben gibt es private Organisationen, die Adoptierte beraten und begleiten. Die Organisation «Back to the Roots» unterstützt spezifisch Personen aus Sri Lanka, mit Mitteln von Bund und Kantonen. Telefonische Beratung bietet sie nun aber – ohne finanzielle Unterstützung – auch für Personen aus anderen Ländern an (Mi. 8–10 Uhr, 076 373 7923, Do. 8–10 Uhr, 077 477 0202).
Was fordern Organisationen der Betroffenen?
Die Organisation «Back to the Roots» schreibt, hinter den Zahlen stünden unzählige Schicksale. Vom Bundesrat würde sie sich nicht bloss Bedauern, sondern eine Entschuldigung wünschen, sagt Sprecherin Celin Fässler. «Für die Betroffenen ist das ein Unterschied.» Fässler weiss dies aus eigener Erfahrung: Sie wurde aus Sri Lanka adoptiert – und konnte ihre Herkunft, wie viele andere, bislang nicht klären. In diesem Jahr hat die Organisation lediglich eine Familienzusammenführung begleiten können. 70 Personen sind zurzeit in Beratung, weitere auf der Warteliste. Es gehe nicht nur darum, die Herkunftsfamilie zu finden, sagt Fässler. «Wichtig ist vor allem die Auseinandersetzung mit der Situation.» Viele Betroffene würden sich dabei lieber nicht an die Behörden wenden, da diese gewissermassen Ursprung des Problems seien.
Mehrere Organisationen – unter ihnen das Schweizerische Rote Kreuz – fordern in einer gemeinsamen Stellungnahme eine umfassende historische Aufarbeitung und eine Analyse der aktuellen Adoptionspraxis. Weiter fordern sie die Behörden auf, Betroffene stärker zu unterstützen und ein Moratorium für Auslandsadoptionen zu prüfen. Hinweise auf illegale Praktiken gebe es bis heute.
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