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Parasportlerin Chantal Cavin
Ihre Welt ist nur hell und dunkel – nun startet sie am Frauenlauf 

Seite an Seite: Maja Neuenschwander (rechts) lotst Chantal Cavin mit kurzen Anweisungen und einem dünnen Band über die Strassen.

Es ist nur ein dünnes Band – und doch viel mehr als das. Die beiden Läuferinnen halten es je in einer Hand, Seite an Seite rennend. Einmal pro Woche tun sie das auf den Berner Strassen, meistens am Morgen früh, ehe die Rushhour einsetzt. Mit knappen Informationen lotst die eine dann jeweils die andere über den Asphalt: «Stufe, Treppe, links, rechts.»

«Das nennt sich Aufwachen mit Maja», sagt Chantal Cavin lachend. Die 45-Jährige ist blind, kann nur Licht und Dunkelheit voneinander unterscheiden. Was sie jedoch nicht daran hindert, ihrer grossen Leidenschaft zu frönen: dem Laufen. Und hier kommt Maja Neuenschwander ins Spiel.

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Die 43-jährige Bernerin hat zweimal an Olympischen Spielen teilgenommen, den Marathon von Wien gewonnen und war über die 42,195 km lange Landesrekordhalterin. 2020 hat sie nach 22 Jahren Spitzensport den Schlussstrich gezogen. Das Laufen aber hat sie nie ganz losgelassen. «Nur bin ich im Moment ein wenig sinnsuchend, weil ich keine Lust darauf habe, einen grossen Wettkampf zu bestreiten.» Und hier kommt Cavin ins Spiel.

Im Herbst 2022 hielt die Parasportlerin ein Referat, das Neuenschwander besuchte. Bereits ein paar Wochen später trafen sie sich ein erstes Mal zum Laufen. Weil sich Neuenschwander über eine Bekannte erkundigt hatte, ob Cavin eine Guide gebrauchen könnte, also jemanden, der mit ihr läuft. Heute sagt Cavin: «Maja ist für mich ein Glücksfall.»

Mit 14 stürzte die Bernerin beim Judo auf den Hinterkopf, sie erblindete vom einen auf den anderen Tag. Doch als Bewegungskind sehnte sie sich danach, weiterhin Sport treiben zu können. Über eine Lehrerin fand sie zum Schwimmen und schaffte es im Parasport bis ganz nach oben: Viermal wurde Cavin Weltmeisterin und stellte mehrere Weltrekorde auf. Nach dem Rücktritt vom Schwimmsport an den Paralympics in London entdeckte sie dann ihre Freude am Laufen.

Wie ein Sehender, der im Dunkeln die Treppe runtersteigt

Aber wie im Wasser benötigt sie auch zu Fuss Hilfe. Aktuell hat Cavin 14 Guides, was die Sache nicht immer einfach macht, weil diese unterschiedlich gross und schnell sind. Entsprechend muss das Zusammenspiel Athletin/Guide immer wieder angepasst werden. Und Cavin muss auch bezüglich der Planung flexibel sein. Denn nur vier Guides können mit ihr Einheiten im Wettkampf-Tempo absolvieren: Weil sie den Rhythmus vorgeben, vorausschauen und Hindernisse durchgeben, dürfen sie nicht am Anschlag sein. Und müssen darum in der Lage sein, rund 20 Prozent schneller zu laufen als Cavin. Es versteht sich von selbst, haben diese ambitionierten Läuferinnen und Läufer auch eigene Pläne und Ziele und stehen ihr nicht immer zur Verfügung. Weshalb Cavin froh ist, mit Neuenschwander nun über ein zusätzliches Ass im Ärmel zu verfügen.

Doch die beiden mussten sich zuerst finden. «Chantal gab mir extrem viel Vertrauen, aber es ist ein anderes Laufen», sagt Neuenschwander. Weil sie für zwei Personen schauen und entsprechend den Rhythmus vorgeben muss. Und weil die beiden einen ganz anderen Laufstil pflegen.

Neuenschwander ist es gewohnt, flach zu laufen – ganz im Gegensatz zu Cavin. Sie hebt ihre Füsse höher an, um die Gefahr zu umgehen, über ein Hindernis zu stolpern. Cavin erklärt es so: «Wenn ein Sehender im Dunkeln eine Treppe runtersteigt, tut er das auch vorsichtig, weil er nicht sieht, wo die letzte Stufe ist.» Was hilft, sind klare Ansagen des Gegenübers. «Das gibt mir Vertrauen, aber es braucht Zeit. Je eingespielter wir sind, desto schneller werde ich laufen können.»

Warum Neuenschwander gefordert ist

Am Sonntag nun wagen die beiden den ersten gemeinsamen Wettkampf. Am Frauenlauf in Bern werden sie über 10 Kilometer antreten. Dabei soll es nicht darum gehen, möglichst schnell ins Ziel zu kommen, sondern Erfahrungen zu sammeln. «Es ist nicht mein Rennen, ich renne für Chantal, und das passt für mich», sagt Neuenschwander. Wegen der unterschiedlichen Streckenabschnitte – von flach zu steil, mit wechselndem Untergrund – spricht sie von einem perfekten ersten Rennen, um sich kennen zu lernen. «Maja wird gefordert sein. Sie läuft viel schneller als ich und muss deshalb ab und an einen Zwischenschritt machen, damit ich im Rhythmus bleibe, aber ich habe keine Zweifel: Sie wird es gut machen», sagt Cavin lachend.

Die beiden können sich vorstellen, längerfristig gemeinsam zu laufen. Nicht zuletzt, weil Neuenschwander sich zumindest vorerst vom Gedanken verabschiedet hat, weitere Marathons zu bestreiten. «Wenn du so lange alles dem Sport untergeordnet hast, ist es befreiend, einmal kein Commitment abgeben zu müssen», sagt sie, die bei Swiss Olympic als Leiterin des Athlete-Hubs und Verantwortliche für das Projekt «Frau und Spitzensport» tätig ist. «Aber das Projekt mit Chantal ist für mich spannend, weil ich nach wie vor das tun kann, was ich am liebsten tue, und dabei anderweitig herausgefordert werde.»

Bald einmal möchte Cavin, die bei Plusport Behindertensport Schweiz für Inklusion und Marketing zuständig ist, einen schnellen Halbmarathon bestreiten. Und mit diesem Gedanken kann sich auch Neuenschwander anfreunden. Bis es jedoch so weit ist, werden die beiden noch ein paarmal frühmorgens durch Bern laufen.