Krieg im Südkaukasus«Ich sehe keinen Grund zu gehen»
Berg-Karabachs Hauptstadt Stepanakert steht seit Tagen unter Beschuss. Eine junge Augenzeugin berichtet über das Ausharren im Bombenkeller, in dem sie einst auch als Kleinkind Zuflucht suchen musste.
Sie hat keine Angst. Zumindest sagt sich Jana Avanesjan das selbst. Immer dann, wenn sie schon morgens das Surren der Kampfdrohnen hört, die über die Häuser fliegen. Und immer, wenn Sirenen ertönen, damit die Bevölkerung sich in die Bombenkeller flüchtet. «Manchmal denke ich: Vielleicht ist alles nur ein böser Traum und irgendwann wache ich auf», sagt die 26-Jährige am Telefon. Aber die Drohnen, die Gebäude und Autos zerschossen haben, sind real. Genauso wie die verletzten Alten und Kinder im Spital, für die sie Blut gespendet hat.
Jana Avanesjan wurde 1994 in Stepanakert geboren. Berg-Karabach ist ihr Zuhause. Sie wuchs auf in einer Gesellschaft, die tief geprägt war von der Bedrohung durch Krieg. In der westeuropäischen Wahrnehmung war der Konflikt im Südkaukasus lange im Hintergrund. Jetzt erschüttern erneut Kämpfe ihre Heimat. Für junge, gut gebildete Menschen wie sie, die blieben, rücken Hoffnungen auf eine Zukunft in Frieden in weite Ferne.
Ihre ersten sechs Lebensmonate verbrachte Jana Avanesjan in einem Bombenkeller. Das war kurz vor Ende des grossen Kriegs in Berg-Karabach, der 1988 mit dem Zerfall der Sowjetunion begonnen hatte. Zu Ostblock-Zeiten hiess das Gebiet «Nagorny Karabach», bergiger, schwarzer Garten. Die fruchtbare Gebirgsregion war eine armenisch-dominierte Enklave inmitten Aserbaidschans. Armenischstämmige Christen und aserbaidschanischstämmige Muslime lebten teils Haus an Haus.
Aufgewachsen zwischen Ruinen
Mit dem Zerfall der UdSSR forderten die Armenier in Berg-Karabach ihre Unabhängigkeit. Proteste schlugen in Gewalt um. Nach blutigen Übergriffen folgte ein Krieg, der die Region für Jahrzehnte verminte, die Feindseligkeit gegenüber Aserbaidschan wuchs. Mehr als 4500 Menschen sind noch vermisst.
Avanesjan wuchs zwischen Ruinen auf. Für die Bewohner Berg-Karabachs fühlte es sich 1994 wie ein Sieg an, als der Krieg endete. Alle Hoffnungen setzten sie in den Neubeginn. Dabei entstand die Republik Artsakh,
die aber international nicht anerkannt ist. In ihr leben fast nur noch Armenier, etwa 145’000.
Viel Geld aus Armenien und aus anderen Ländern floss in den Wiederaufbau von Berg-Karabach. Architekten aus der armenischen Diaspora halfen, die zerstörte Hauptstadt Stepanakert wieder hochzuziehen. Beleuchtete Springbrunnen, breite Treppenanlagen und ein kleiner Freizeitpark umgeben die Regierungsgebäude im Zentrum. Sogar eine kleine Universität gibt es: die Artsakh State University.
Avanesjan ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Völkerrecht. Derzeit sind die Hörsäle leer.
«Seit der Kriegszustand ausgerufen wurde, haben alle Bildungseinrichtungen geschlossen», berichtet sie.
Bei Twitter teilt die junge Juristin Fotos aus Kellern, in denen die Menschen Schutz suchen. Eines zeigt
einen kleinen Buben: «Er sollte zur Schule gehen können, statt Tag und Nacht in einem Bunker zu sitzen.»
Doch die Menschen sollen sich möglichst wenig auf den Strassen aufhalten. Nur kleine Lebensmittelläden haben noch geöffnet. «Die Inhaber hängen Zettel mit ihren Handynummern ins Fenster, damit man sich verabreden kann, wenn man etwas braucht», erzählt Avanesjan. Noch ist sie guter Dinge. Die Behörden hätten versichert, es gebe genug Lebensmittel und Medikamente.
Nicht überall gibt es diese Infrastruktur. Viele Familien aus abgelegenen Dörfern suchen Zuflucht in Stepanakert. Viele von ihnen leben von der Landwirtschaft – oft in Armut. Berg-Karabach mangelt es an Wirtschaftsperspektiven, Industrie und Dienstleister gibt es kaum. Das Militär war in der Krisenregion immer sicherster Arbeitgeber. Zuletzt hoffte man auf Tourismus: Mittelalterliche Klosterruinen wurden restauriert, ein Wanderweg durch die Schluchten mühsam von Minen befreit, das jährliche Weinfest war der kulturelle Höhepunkt.
Für Armenier in aller Welt ist Artsakh ein symbolträchtiger Sehnsuchtsort.
Doch schon vor Corona reisten nur wenige Abenteurer über Armenien an. Auf dem 2009 hergerichteten Flughafen Stepanakert ist noch nie eine Passagiermaschine gelandet. Jede Airline, die Berg-Karabach ansteuern würde, müsste illegal in Aserbaidschans Luftraum eindringen und würde den Abschuss riskieren.
Für Armenier in aller Welt ist Artsakh ein symbolträchtiger Sehnsuchtsort. Das hat mit dem Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges zu tun, der tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben ist. Historiker gehen von bis zu 1,5 Millionen Toten aus. Diese systematische Auslöschung der Armenier durch das Osmanische Reich erkennt die Türkei bis heute nicht als Völkermord an. Sie unterhält enge freundschaftliche Verbindungen zu Aserbaidschan und steht dem Land nun zur Seite.
Freundschaft mit Türken oder Aserbaidschanern ist für viele Armenier kaum denkbar. In Stepanakert sind die allermeisten Menschen überzeugt, dass Aserbaidschan an der Eskalation des Konflikts Schuld trägt. Auch Avanesjan, die jetzt sehr aktiv ist in sozialen Medien. «Stoppt die aserbaidschanische Aggression» ist einer ihrer meistgenutzten Hashtags auf Twitter.
Doch wie lange kann die Bevölkerung stark bleiben? Die meisten Männer wurden an die Front gerufen. Viele Alte, Frauen und Kinder sind zu Verwandten nach Armenien geflohen. Jana Avanesjan will nicht weg. «Meine Geschwister sagen, das sei nicht normal», sagt sie. «Aber ich sehe keinen Grund zu gehen. Ja, es ist etwas gefährlich, aber hier kann ich helfen.»
Das letzte Telefonat mit der jungen Frau bricht ab. Am Sonntag kommt eine Whatsapp-Nachricht durch, ihre vorerst letzte: «Entschuldige meine späte Antwort», schreibt sie. Die meiste Zeit gebe es weder Internet noch Strom. «Stepanakert ist wieder unter Beschuss.» Diesmal von Raketen. (Lesen Sie zum Thema den Artikel «Gefechte mit Vorgeschichte».)
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