Kino als sozialer SpiegelMenschen werden einsamer – Filme werden menschenleer
Leinwände und Screens fassen den gesellschaftlichen Trend der Vereinzelung in Bilder. Warum ausgerechnet der boomende Horrorfilm Trost spendet.
- Horrorfilme zeigen zunehmend einsame Szenerien.
- Die Einsamkeit nimmt weltweit zu, begünstigt auch durch pandemiebedingte soziale Isolation.
- Horrorfilme haben eine breitere, ältere und vielfältige Zuschauergruppe gewonnen.
- Die Einsamkeit in Filmen dient als Ventil für kollektive Ängste und Ohnmachtsgefühle.
Was wurde eigentlich aus New Yorks Image als Stadt, die niemals schläft? Auf der Leinwand war sie in den vergangenen Monaten erstaunlich oft als menschenleere Wüste zu sehen. In «Wolfs» beispielsweise irren George Clooney und Brad Pitt als Assistenten für ganz besondere Fälle mit einer vermeintlichen Leiche durch die entvölkerte Nacht, und es dauert über eine Stunde, bis sie endlich auf eine Menschenansammlung in einem Nachtclub treffen.
Die Treppe in der Bronx im zweiten «Joker»-Film «Folie à deux» scheint tatsächlich nur für zwei Leute zu sein, Joaquin Phoenix und Lady Gaga. Und in «A Quiet Place: Day One» wird einen Film lang Manhattan alles Leben ausgetrieben, bis am Ende Lupita Nyong’o auf dem pulsierendsten Eiland aller Zeiten ganz allein ist und dort wirklich nichts und niemand mehr pulsiert ausser ein paar schnatternden Aliens, während sie mit Kopfhörern eine leere Strasse entlanggeht.
Das ist insofern erstaunlich, als Einsamkeit kein Zustand ist, der den Gesetzen des Kinos entgegenkommt. Zu den wenigen Filmen, die tatsächlich eine One-Man-Show sind, gehört «All Is Lost» (2013), da ist Robert Redford mit sich selbst allein, hat aber wenigstens noch einen Sturm als Gegner, der die wortkarge Handlung vorantreibt.
10 Prozent der unter 30-Jährigen fühlen sich einsam
Das Kino ist keine Landschaftsmalerei, es braucht Dialoge und Aktion. Umso erstaunlicher ist es, wie viele aktuelle Filme von Bildern voller Einsamkeit durchzogen sind. In Bertrand Bonellos «The Beast» geht Léa Seydoux durch Paris und begegnet dabei einem Wolf und einem Reh. Das kleine Mädchen, das in «Abigail» seinen Entführern die Hölle auf Erden bereiten wird, sieht man am Anfang des Films zu «Schwanensee» tanzen, ganz allein, in einem Theater ohne Publikum.
Das sind Bilder, die wirken, als habe die Pandemie sie in die Köpfe von Filmemachern und Publikum eingepflanzt. Aber es ist ja, seit das Coronavirus ausbrach, auch eine andere Pandemie in den Fokus gerutscht, die sich seit vielen Jahren breitmacht – die Pandemie der Einsamkeit. Und auch die scheint in die Filme hineingekrochen zu sein.
Eine in diesem Jahr veröffentlichte Bertelsmann-Studie untersuchte die Einsamkeit in Deutschland bei Menschen zwischen 15 und 30 Jahren und kam dort auf 10 Prozent, die sich von Einsamkeit stark betroffen fühlen und weitere 36 Prozent, die sich moderat betroffen fühlen. In England und Japan gibt es bereits Ministerien, die für die Bekämpfung von Einsamkeit zuständig sind. Die deutsche Regierung begründete ihre «Strategie gegen Einsamkeit» nicht nur mit dem erwiesenen Einfluss von Einsamkeit auf die Gesundheit, sondern auch damit, dass Menschen, die keine Bindungen eingehen, auch auf nichts und niemanden mehr vertrauen.
Kino muss auch Wirklichkeit spiegeln
Das sind keine Dinge, die sich als Thema eines ganzen Spielfilms eignen würden. Aber wenn das Kino versucht, diesen Trend in Bilder zu fassen, macht es seinen Job. Der besteht ja nicht nur darin, Fantasien zu beflügeln oder uns zwei Stunden Flucht vor der Wirklichkeit zu bieten. Es muss auch unsere Wirklichkeit spiegeln und uns helfen, unsere Emotionen zu kanalisieren. Einsamkeit ist Teil dieser Wirklichkeit – und in Filmen reicht es oft, dass man sich mit dem identifizieren kann, was die Protagonistinnen und Protagonisten empfinden, selbst wenn man nicht genau sagen könnte, warum.
Horrorfilme tun sich am leichtesten damit, Einsamkeit in ihren Plot einzubauen. Das liegt in der Natur der Sache: Bedrohung und Angst entstehen, wo der Rückhalt fehlt. Der Horrorfilm «Abigail» beispielsweise spielt in weiten Teilen auf einem heruntergekommenen Landsitz im Nirgendwo. Ein klassischer Ort für Schauergeschichten – es soll ja keine Zeugen geben, keine Nachbarn, die man um Hilfe bitten könnte.
Tatsächlich erlebt das Horrorgenre gerade einen Boom, der in der Pandemie begonnen hat. Das «Wall Street Journal» hat im vergangenen Jahr die Veränderung der Marktanteile in den amerikanischen Kinos einmal durchgerechnet: Seit 2021, als die Säle wieder den Betrieb aufnahmen, machen die Eintrittskarten für Horrorfilme etwa 10 Prozent aller verkauften Tickets aus, vor der Pandemie waren es zuletzt weniger als 4 Prozent gewesen.
Das Publikum für Horrorfilme hat sich verändert
Horrorfilme kommen alle fünfzehn oder zwanzig Jahre in Mode, diesmal aber hat sich das Publikum verändert. Das Genre ist keine Domäne männlicher Jugendlicher mehr, das Publikum ist fast zur Hälfte weiblich, und es ist im Schnitt älter.
Wo die Marktanteile steigen, sind die Studios sofort gewillt, mehr Geld zu investieren. In «A Quiet Place: Day One» spielt mit Lupita Nyong’o eine leibhaftige Oscarpreisträgerin die Hauptrolle, den Bösewicht in «Speak No Evil» spielt James McAvoy. In «They See You» muss sich Dakota Fanning durch einen irischen Wald schlagen. All diese Filme sind in den vergangenen Monaten gestartet.
Horrorfilme sind die Erben von Romanen, die ihrerseits die Erben alter Sagen sind – die Menschen erzählen einander Schauergeschichten, seit sie dafür Worte haben. Menschen wollen diese Geschichten hören, weil sie starke Emotionen auslösen. Sie dienen als Übung im Umgang mit Ängsten. Sie passen gut zu den Folgen von Lockdowns, Homeoffice und virtuellen Dinnerpartys, zu der um sich greifenden Vereinzelung. In Horrorfilmen ist nie einer da, wenn man jemanden braucht, und man darf nie jemandem trauen, Ohnmachtsgefühle stehen meist im Mittelpunkt. Die Protagonistinnen und Protagonisten sind ausgeliefert.
Nicht immer, aber ganz oft gewinnen sie aber doch am Ende die Oberhand, oder es gelingt ihnen die Flucht, und dann sind wir mit ihnen erleichtert, entrinnen mit ihnen dem Gefühl der Aussichtslosigkeit. Und wenn nicht, haben Misstrauen, Angst und Einsamkeit letztlich zumindest einen Film lang ein Ventil gefunden.
Die Pandemie der Einsamkeit hat nicht mit den Lockdowns begonnen, die haben es nur schlimmer gemacht, Bindungen gekappt, für noch mehr Rückzug ins Private vor die Laptops gesorgt. Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Putnam hat in seiner Zeit als Professor in Harvard im Jahr 2000, also vor fast einem Vierteljahrhundert, sein Buch «Bowling Alone» veröffentlicht und darin schon beschrieben, dass die Einsamkeit schlimmer wird.
Die Gründe, die er damals nannte, waren vielfältig. Ein gesellschaftlicher Wandel, der dafür sorgte, dass Menschen seltener in den Gemeinden blieben, in denen sie verwurzelt sind; dass sie dadurch weniger Interesse an Vereinen und Verbänden hatten; dass es vor allem mehr aufs Individuum zugeschnittene Einzelfreizeitgestaltung gab: Fernsehen, Videos, Internet.
Das Vertrauen in die Demokratie sinkt
Putnams Forschungsschwerpunkt in Harvard waren die Auswirkungen auf die Demokratie, auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext, und auch da hatte er recht. 2023 kam die Studie «Extrem einsam?» heraus, die bei Jugendlichen den Zusammenhang zwischen Einsamkeitserfahrungen und mangelndem Vertrauen in die Demokratie feststellte.
Einsamkeit ist für eine Gesellschaft ungesund, sie ist es aber vor allem auch für jeden Einzelnen, der sie empfindet. Sie verursacht seelischen und körperlichen Stress, fördert Herz-Kreislauf-Erkrankungen und macht unglücklich. Das Kino bietet sich da wohl nur als Gegengift an, wenn man es in Gruppen besucht. Das entspricht aber nicht dem Trend – die Streamingdienste vermelden Rekorde bei Abozahlen.
Auf deren Hitlisten sieht es übrigens gerade so aus: «Wolfs» ist bei Apple TV+ auf Platz 1, «Abigail» ist bei Amazon Prime ziemlich weit vorn, und bei Netflix ist derzeit der Renner eine Romanze von Susannah Grant namens «Lonely Planet», in der zwei einsame Seelen umeinander herumschleichen. Es kann schon sein, dass all diese Filme den Zuschauenden auf den Sofas der Welt auf ganz unterschiedliche Art Trost spenden und sie sich einen Augenblick lang verstanden fühlen. Aber weniger einsam werden sie davon nicht.
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