Interview übers Glück«Wenn alle Politiker mental gesund wären, gäbe es weniger Leid»
Neurowissenschaftlerin Barbara Studer sagt, wie 2024 ein gutes Jahr werden kann: indem wir uns stärker um andere kümmern, uns öfter bewegen und mehr schlafen.

Frau Studer, wie können wir alle im kommenden Jahr glücklicher werden?
Barbara Studer: Indem wir mehr von dem tun, was uns wirklich wichtig ist – mehr kreieren und weniger konsumieren. Und indem wir viel Zeit in Bewegung und in Gemeinschaft lieber Menschen verbringen. Das sind die wichtigsten Erkenntnisse aus den aktuellen «Happiness Studies». Wer zum Beispiel mit 50 Jahren gute Freundschaften pflegt, wird mit 80 Jahren glücklicher und gesünder sein als weniger integrierte Altersgenossen. Ich sage deshalb: Nehmen Sie sich bewusst Zeit für tiefe, wertvolle Beziehungen zu anderen Menschen.
Was, wenn man eher introvertiert ist?
Es geht nicht um die Anzahl Beziehungen, die man pflegt, sondern um die Qualität. Das hängt nicht davon ab, was für ein Typ man ist. Wenige tiefe Interaktionen bringen mehr als viele oberflächliche.
Von welcher Art Beziehung reden wir – von der zum Lebenspartner, zur Familie oder zu Freunden?
Die partnerschaftliche Beziehung prägt zu einem grossen Teil, wie wohl man sich fühlt. Aber auch ein starkes Netzwerk ausserhalb der eigenen Familie ist bedeutend. Sonst droht die Einsamkeit im Alter, wenn der Partner oder die Partnerin stirbt. Einsamkeit ist für die Gesundheit mindestens so schädlich wie Rauchen oder Übergewicht.
Haben wir überhaupt einen Einfluss auf die Qualität unserer Beziehungen? Es ist doch meist Glückssache, ob man Menschen findet, die zu einem passen.
Ich bin überzeugt, dass wir da viel tun können. Ausschlaggebend sind Dinge wie Humor, Kommunikation, Empathie, Kompromissbereitschaft. Alles Dinge, die man üben kann.
Sie sagen, man solle in Beziehungen «investieren». Das klingt nach einer rein ökonomischen Rechnung.
Das stimmt. Aber das Wort passt, weil man sich persönlich einbringen muss, wenn man etwas zurückbekommen will. Studien zeigen, dass man sich sogar glücklicher fühlt, wenn man anderen etwas Gutes tut, als wenn man sich selbst belohnt. Aber letzten Endes geht es natürlich nicht um eine ökonomische Rechnung, sondern um das tiefe Bedürfnis nach Verbundenheit, das wir alle in uns tragen.
Es gibt auch Beziehungen, in denen man kaum etwas zurückerhält.
Ja, leider merken das manche Leute erst zu spät. Das Wahrnehmen eigener Bedürfnisse und das Setzen von gesunden Grenzen sind wichtige Faktoren für eine erfüllende Beziehung.
«Das Problem ist nicht die Digitalisierung an sich, sondern unser zu wenig achtsamer Umgang damit.»
Psychische Probleme sind weitverbreitet. Vor allem bei jungen Menschen. Woran liegt das?
Das ist eine schwierige Frage. Sicher ist: In unserem Alltag gibt es oft Bewegungsmangel und eine Überreizung der Sinne. Wir verbringen viel Zeit vor Bildschirmen und werden dabei mit vorgegebenen Inhalten berieselt, statt selber wirksam zu sein. Das führt bei manchen dazu, dass sie sich selbst und ihre Grenzen nicht mehr spüren. Früher erlebten Menschen tendenziell auch mehr Sinnhaftigkeit. Eine Bäuerin wusste, weshalb sie morgens aufsteht und wieso sie ein Feld erntet. Wer sich dagegen in einem System gefangen fühlt von «müssen» und «sollen», der ist eher anfällig für psychische Probleme.
Worin fühlen sich junge Menschen gefangen?
Junge Menschen möchten in ihrer Einzigartigkeit gesehen und gefördert werden. Das Schulsystem mit seinen zahlreichen Vergleichsprozessen – Stichwort Noten – erleben viele als von aussen verordneten Druck. Dazu kommt, dass sich Jugendliche in den sozialen Medien mit der ganzen Welt vergleichen. Früher waren die Schulkolleginnen und -kollegen der Referenzrahmen. In diesem überschaubaren Umfeld war es leichter, mit einzelnen Fähigkeiten herauszustechen. Aber auf Instagram und Co. gibt es immer jemanden, der noch schöner oder talentierter ist. Das führt zum Gefühl, dass man nie genügt.
Also ist die Digitalisierung schuld an unseren Problemen?
Sie trägt einen grossen Teil dazu bei. Aber das Problem ist nicht die Digitalisierung an sich, sondern unser zu wenig achtsamer Umgang damit und mit den eigenen Emotionen.
Was können wir besser machen?
Besser filtern, was wir online konsumieren. Sich vor dem Konsumieren fragen: «Brauche ich es, will ich es?» Mehr hinterfragen, ob wir wirklich so viel Zeit mit elektronischen Geräten verbringen wollen.
«Viele Eltern sind heute stark absorbiert mit ihrem Job, ihren Smartphones und abends mit ihrem Fernseher.»
Sie geben Workshops an Schulen zu «Brain Science of Happiness». Was raten Sie Jugendlichen?
Wir erklären ihnen die Arbeitsweisen des Gehirns und zeigen, wie sie mit ihren täglichen Gedanken und Handlungen sowie mit ihrem Lebensstil ihre Stimmung mitbestimmen. Die meisten Glückshormone werden zum Beispiel im Darm produziert. Die Ernährung spielt also eine entscheidende Rolle. Energydrinks etwa, die viele Jugendliche konsumieren, führen zu einem Zuckerkick, und der endet in einer Stimmungsachterbahn. Genügend Schlaf ist ebenfalls ein wesentlicher Faktor für unser Wohlbefinden. Und wer am Morgen noch vor dem Aufstehen durch Social-Media-Kanäle scrollt, setzt einen emotionalen Prozess frei, der viel Energie rauben kann.
Sie haben drei Kinder. Haben diese ein iPad oder ein Smartphone?
Nein. Der Älteste ist jetzt elf Jahre alt. Er darf das Familien-iPad pro Tag 20 Minuten benutzen. Manchmal frage ich ihn danach: Hat dir das Gamen jetzt gutgetan? Diese Achtsamkeit ist mir wichtig. Er soll lernen, zu spüren, wann es ihm vielleicht besser täte, mit Freunden nach draussen zu gehen. Gefährlich wird es, wenn sich ein Kind angewöhnt, dass elektronische Medien bei Frust, Langeweile oder Müdigkeit vermeintlich trösten.

Viele Eltern begrenzen die Zeit ihrer Kinder an elektronischen Geräten. Reicht das?
Es geht weniger um die Nutzungszeit als um eine gesunde Balance. Einen achtsamen Umgang mit Medien und klare Werte kann man vorleben. Aber viele Erwachsene sind heute stark absorbiert mit ihrem Job, ihren Smartphones und abends mit ihrem Fernseher. Kurz: Manche Eltern sind wenig präsent.
Allerdings haben superachtsame Menschen etwas ziemlich Egozentrisches an sich.
Grundsätzlich ist Selbstfürsorge nicht egoistisch. Stellen Sie sich vor, wie viel weniger Leid es auf dieser Welt gäbe, wenn alle Politikerinnen und Politiker sowie alle Eltern mental gesund wären. Aber natürlich kann man es auch übertreiben. Wenn jemand sich zu stark um sich selbst dreht, ist das nicht mehr gesund. Wir sind soziale Wesen, die Energie aus der Interaktion mit anderen und aus dem Geben ziehen.
Muss man die eigenen Gefühle stets im Detail analysieren und verbalisieren?
Die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu benennen, ist wertvoll. Das sollte man wertschätzen und nicht als Verweichlichung abtun. Die ältere Generation hat weniger gelernt, eigene Grenzen wahrzunehmen, deshalb empfindet sie junge Menschen manchmal als zu sensibel. Dabei ist der Dialog zwischen den Generationen unglaublich wichtig, weil alle voneinander lernen können. Auch Junge können von den Älteren lernen. Diese sagen ihnen vielleicht: «Schau dich mal um, wo du dich einbringen kannst, anstatt so viel zu grübeln.»

Ihr Vater litt an Depressionen. Liegt Ihr Interesse an psychischer Gesundheit auch an Ihrer persönlichen Geschichte?
Ja, das hat mich sensibilisiert. Mein Vater hat sich viele Gedanken gemacht über Dinge, auf die er keinen Einfluss hatte. Das Gefühl von Ohnmacht gehört zum Schlimmsten für das Gehirn. Beim Studium der Neuropsychologie fand ich später viele Antworten auf meine damaligen Fragen.
Zum Beispiel?
Ich begann zu verstehen, wie stark Gedanken, Emotionen und Körper interagieren. Obwohl ich auch Wissenschaftlerin bin, vermittle ich gern pragmatische Grundsätze wie «Stark durch die big Ls» wie Lachen, Liebe, Licht, Luft und Laufen.
Könnte man denn Depressionen grundsätzlich verhindern?
Zu einem grossen Teil sicher. Wir wissen aus der Forschung um die präventive und therapeutische Wirkung von Bewegungsinterventionen, Ernährungsumstellungen, besserer Schlafhygiene, aufbauenden zwischenmenschlichen Beziehungen, Humortraining und mehr Sinnhaftigkeit im Alltag – sie können wirksamer sein als Antidepressiva.
«Ich schlafe wahrscheinlich zu wenig. Aber schreiben Sie das nicht! Ich bin ein schlechtes Vorbild.»
Sie sind wahnsinnig aktiv – Sie joggen, spielen mehrere Instrumente, haben mit Hirncoach.ch ein eigenes Start-up gegründet, sind oft in den Medien präsent. Haben Ihre Tage mehr als 24 Stunden?
Ich mache das, was ich liebe und was mir wichtig ist. Na ja, ich schlafe wahrscheinlich zu wenig. Aber schreiben Sie das nicht! Ich bin ein schlechtes Vorbild. Ich habe auch Leute um mich herum, die mich sehr unterstützen – in meiner Familie, aber auch im Team. Ich umgebe mich bewusst mit Menschen, mit denen ich gern zusammen bin. Das treibt mich an.
Als Selbstständige haben Sie den Vorteil, dass Sie sich Ihr Team selbst zusammenstellen können.
Das stimmt. Das ist ein riesiges Privileg. Aber jeder und jede kann seine Umgebung mitgestalten. Es ist ein wichtiger Glücksfaktor, sich mit Leuten zu umgeben, die einem guttun – und sich von den anderen abzugrenzen.
Wie optimistisch blicken Sie für uns als Gesellschaft in die Zukunft?
Grundsätzlich leben wir in einer sehr spannenden Zeit, in der viel möglich ist. Ich glaube, die Menschen müssen verstehen, dass wir einander brauchen. Es geht um das Wohlbefinden aller. Wenn wir es schaffen, den Fokus darauf zu legen, dann bin ich hoffnungsvoll.
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