Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Wiederaufnahme des Strafprozesses
Profitiert Harvey Weinstein vom Anti-Woke-Klima?

Zeigt Zuversicht und ist bei besserer Gesundheit: Harvey Weinstein im April 2025 vor dem Supreme Court des Staates New York.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk
In Kürze:
  • Die Staatsanwaltschaft konzentriert sich bei der Neuauflage auf drei Missbrauchsfälle.
  • Das Gericht wählte aus 300 Kandidaten zwölf unvoreingenommene Geschworene sorgfältig aus.
  • Weinsteins Verteidigung argumentiert, die Beziehungen seien einvernehmlich und karrierefördernd gewesen.
  • Ein einstimmiger Schuldspruch könnte für die Staatsanwaltschaft dieses Mal besonders schwierig werden.

Mit starrem Blick sass Harvey Weinstein in seinem Rollstuhl, als das Gericht ihn im Februar 2020 wegen Sexualverbrechen verurteilte. Im Prozess hatte die Welt keinen mächtigen Medienmogul mehr zu sehen bekommen, sondern einen gefallenen Mann. Einen Gezeichneten, der zum Symbol des Machtmissbrauchs geworden war, den die #MeToo-Bewegung anprangerte.

Vor einer Woche schoben Helfer Harvey Weinstein wie vor fünf Jahren im Rollstuhl in einen Gerichtssaal in Manhattan. Am Handgelenk ein medizinisches Armband, «Fall Risk» stand darauf. Der 73-Jährige soll an myeloischer Leukämie und Diabetes erkrankt sein.

Trotzdem wirkte er nun wacher, selbstsicherer. Bei der Neuauflage des Strafprozesses hat sich das Fallrisiko verschoben. Auf der Anklagebank legte Weinstein demonstrativ ein Buch vor sich: «The Corrections» von Jonathan Franzen.

Korrekturen, darum scheint es ihm zu gehen.

Lesestoff für lange Verhandlungstage dabei: Unter anderem zeigt Weinstein demonstrativ Jonathan Franzens Hit «Die Korrekturen».

Nach den ersten Verhandlungstagen zeichnet sich jedenfalls schon mal ab, dass es beim zweiten Versuch extrem schwierig werden könnte für die Staatsanwaltschaft, einen Schuldspruch zu erwirken.

Dabei hat sich inhaltlich kaum etwas geändert: Es geht nach wie vor um die Frage, ob Weinstein Frauen belästigt oder sie zu sexuellen Handlungen gezwungen hat. Dessen war er bereits 2020 schuldig gesprochen worden, 23 Jahre Haft lautete die Strafe.

Der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates New York kassierte dieses Urteil jedoch vor einem Jahr wieder ein mit der Begründung, dass der Prozess nicht fair verlaufen sei. Die Strafverfolger hätten Zeugen befragt, deren Vorwürfe gegen Weinstein nicht belegt gewesen seien oder nichts mit der konkreten Anklage zu tun gehabt hätten.

Es geht noch um drei Fälle

Die Staatsanwaltschaft konzentriert sich deshalb dieses Mal auf drei Fälle. Die einstige Produktionsassistentin Miriam Haley behauptet, dass Weinstein sie 2006 zu Oralsex gezwungen habe. Schauspielerin Jessica Mann wirft ihm vor, dass er sie 2013 vergewaltigt habe. Beide Fälle wurden bereits 2020 verhandelt, an den Aussagen dürfte sich nicht viel ändern – zumal festgelegt wurde, dass sie mit denen aus dem ersten Prozess abgeglichen werden können, den Geschworenen liegen Abschriften vor.

Neu ist der Fall Kaja Sokola. Die hatte in einer Zivilklage behauptet, dass Weinstein sie 2002 belästigt habe – 16 Jahre alt war sie damals. Bei einer aussergerichtlichen Einigung 2019 zahlte Weinstein drei Millionen Dollar. Darum geht es beim Strafprozess explizit nicht, sondern um einen Vorfall vier Jahre später. Weinstein habe sie in sein Hotelzimmer gelockt mit dem falschen Versprechen, sich über Drehbücher zu unterhalten.

Laut Staatsanwältin Shannon Lucey hat er Sokola gezwungen, Oralsex an ihr zuzulassen, während er masturbiert habe. Sie habe geweint und gefleht: «Bitte, tu das nicht.» Er habe jedoch weitergemacht und später gesagt: «Siehst du, das war doch nicht so schlimm.»

Der Fall von 2002 spielt trotzdem eine Rolle. Denn laut Staatsanwaltschaft soll Weinstein bei dieser Begegnung geprahlt haben, dass er die Karrieren der Megastars Gwyneth Paltrow und Penélope Cruz entscheidend gefördert habe. «So geht es nun mal zu in dieser Branche», soll er gesagt haben, nachdem er Sokola mutmasslich begrapscht und aufgefordert hatte, das T-Shirt auszuziehen. Er habe auch gesagt, dass sie «ihre Bockigkeit ablegen» müsse.

Das ist das Bild, das Staatsanwältin Lucey zeichnet: Ein Mann auf dem Höhepunkt seiner Macht zwingt junge Frauen zu sexuellen Handlungen – weil er es kann. «Er hielt das goldene Ticket in der Hand. Er hat den Traum von einer Chance in diesem Business als Waffe missbraucht», sagte Lucey. Genau deshalb ist er in einem anderen Fall in Los Angeles zu 16 Jahren Haft verurteilt worden.

Verteidigungsstrategie zeichnet sich ab

Es kommt also gar nicht so darauf an, was passiert sein soll, sondern auf die Interpretation der Umstände. Wie kompliziert das werden dürfte und was sich seit dem ersten Prozess verändert hat, zeigte die Auswahl der Geschworenen: 300 Kandidaten hatte das Gericht geladen, am Ende blieben zwölf und sechs Ersatzleute übrig: unvoreingenommen und objektiv, fast unmöglich bei einer berühmten Person wie Weinstein.

Eine allzu klare Haltung zur #MeToo-Bewegung war für die Kandidaten zum Beispiel bereits ein Ausschlusskriterium. Ein Kandidat sagte, dass ihm die Bewegung zu weit gehe, er habe erlebt, wie einstige Schulkameraden beschuldigt worden seien – «und am Ende war es überhaupt nichts». Eine andere Kandidatin dagegen sagte, dass die Bewegung ihr im Gegenteil nicht weit genug gehe. Beide wurden von ihrer Pflicht entbunden.

Genau da setzt die Verteidigung von Weinstein an, auch für sie gibt es bei Sokola einen Zusammenhang zwischen beiden Fällen. Wenn das 2002 gewesen sei, wie Sokola behaupte, warum habe sie dann Kontakt zu ihm gehalten? Ihn um Tickets für Filmpremieren gebeten? Ihn freundlich umgarnt? Seine Hilfe angenommen, als er ihr eine Rolle im Film «The Nanny Diaries» mit Scarlett Johansson und Alicia Keys besorgt habe – während der Dreharbeiten soll es zu der Begegnung gekommen sein, die nun verhandelt wird.

«Es war eine Beziehung, von der beide profitiert haben», sagte Weinsteins Anwalt Arthur Aidala: Er verschaffe ihnen Rollen, «dafür machen sie ein bisschen mit ihm rum – und zwar in gegenseitigem Einverständnis».

Wird aus #MeToo nun #YouToo?

Aidala bewegt sich im Graubereich des «Victim Shaming», ohne die Grenze belastbar zu überschreiten. Er zeichnet Weinstein und die mutmasslichen Opfer als Figuren auf einem Spielfeld mit bekannten Regeln. Weinstein sei der Mächtigere gewesen, mit dem Schlüssel zum Erfolg. «War das unmoralisch? Absolut. Es gibt jedoch einen riesigen Graben zwischen unmoralisch und illegal», sagte Aidala. «Die Besetzungscouch ist nicht automatisch auch Tatort.» Aus #MeToo wird für Aidala #YouToo: Du hast doch mitgemacht bei diesem Spiel, die Regeln waren bekannt. Du hast mitgemacht und davon profitiert. «Und all die Jahre später wird plötzlich ein Problem daraus», rief er.

Der gar nicht mal unterschwellige Vorwurf: Die mutmasslichen Opfer missbrauchen die #MeToo-Bewegung. Sie hätten eine Möglichkeit gesucht, «Weinstein auszunutzen, wie sie das bereits vorher getan hatten – und sie wurden fündig, als er sich auf dem Weg nach unten befand». Er sieht Weinstein also nicht als Auslöser und Katalysator der #MeToo-Bewegung, sondern umgekehrt die #MeToo-Bewegung als Auslöser und Katalysator der Klagen gegen Weinstein.

Aidala reitet, das wird schnell deutlich, in seiner Argumentation auf der Anti-Woke-Welle, so wie es Donald Trump bereits im Präsidentschaftswahlkampf getan hatte – Letzterer mit Erfolg. Das Ziel des Anwalts ist es ganz offensichtlich, Zweifel zu säen. Sollten die Geschworenen Weinstein schuldig sprechen in diesem Strafprozess, müssen sie das einstimmig und ohne berechtigte Zweifel tun. Nur dann könnte er zu bis zu 25 Jahren Haft verurteilt werden.

Vielleicht ist das der Grund, warum Weinstein die ersten Tage vor Gericht recht gelassen verfolgte. Er lachte, als sein Anwalt sagte, dass Weinstein nun mal «nicht aussehe wie Brad Pitt oder George Clooney». Er nickte, als es hiess, dass er seine Frau betrogen habe, und er nickte, als er hörte, dass er nun mithilfe der #MeToo-Bewegung ausgenutzt werden solle.

Kurz: Er verhielt sich wie einer, der weiss, dass es schwierig werden dürfte, einen einstimmigen und zweifelsfreien Schuldspruch gegen ihn zu erwirken.