Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Wahlen in den Niederlanden
Grüne und Sozial­demo­kraten wollen raus aus der Bedeu­tungs­losigkeit

Wollen künftig enger zusammenarbeiten: Grünen-Chef Jesse Klaver und PvdA-Vorsitzende Attje Kuiken am Montag in Utrecht.

Jesse Klaver ballte die Faust, strahlte und brüllte ein «Yesss!» in den Saal, als hätte er gerade den Wimbledon-Final gewonnen. Oder als wäre er Ministerpräsident geworden. Dabei reagierte der Chef der niederländischen Grünen (Groenlinks) zu Wochenbeginn auf das Ergebnis einer Mitgliederbefragung zu der geplanten Kooperation mit den Sozialdemokraten (PvdA). Jeweils um die 90 Prozent billigten den Plan der Parteiführungen, zur Neuwahl im November mit einer gemeinsamen Liste und einem gemeinsamen Spitzenkandidaten anzutreten. Damit ist mehr oder weniger besiegelt, dass beide Parteien mittelfristig als eigenständige politische Formation nicht mehr existieren. Warum jubelte Klaver?

Um das zu verstehen, reicht ein Blick auf die Sitzverteilung in der Zweiten Kammer. Groenlinks kommt auf acht, die PvdA auf neun von 150 Mandaten. Auf sich gestellt, haben beide wenig zu sagen im Kampf um die Macht. Zusammen wären sie plötzlich wieder eine ernst zu nehmende Kraft, so stark wie die rechtsnationalistische PVV von Geert Wilders. Und könnten vielleicht sogar ein Wörtchen mitreden bei der Frage, wer dem abgetretenen Mark Rutte als Premier nachfolgt. Was wiederum, so die Hoffnung, die Wähler angrenzender Parteien wie der sozialistischen SP oder der linksliberalen D66 dazu bringen könnte, ihre Stimme von vornherein dem neuen Fusionsprojekt zu geben.

Die Karten werden neu gemischt

Der Abgang Ruttes, dem sich andere führende Politiker anschlossen, hat vieles in Bewegung gesetzt in den Niederlanden. Die Karten werden neu gemischt, das Rennen ist offen wie seit 20 Jahren nicht mehr. Auch deshalb hielten Grüne und Sozialdemokraten die Zeit für reif, die schon länger erwogene Kooperation zu wagen. Treibende Kraft ist vor allem Grünen-Chef Klaver, der kürzlich sogar demonstrativ der PvdA beitrat. Wobei er zunächst breiter gedacht hatte: 2020 plädierte er für ein Dreierbündnis einschliesslich der SP, im Jahr darauf umwarb er zusätzlich D66. Beide lehnten ab.

Verlässt die politische Bühne: Premier Mark Rutte. 

Ein erstes Zeichen setzten Grüne und PvdA, als sie sich 2021 gemeinsam an den Verhandlungen über eine neue Regierungskoalition beteiligten. Seither stimmen sie ihre Positionen im Parlament eng ab, im Oberhaus legten sie ihre Fraktionen schon zusammen. Die Kooperation bei der Wahl gilt als Probelauf für eine spätere komplette Verschmelzung. Vor allem für die Sozialdemokraten, die nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang eine zentrale Rolle im Land spielten, wäre das ein historischer Schritt.

Wobei Fusionen nichts Neues sind in der niederländischen Politik; PvdA wie Grüne gingen selbst daraus hervor. Sie liegen nahe, weil die parteipolitische Zersplitterung auch mangels Wahlhürden zunimmt und es grössere Volksparteien nicht mehr gibt. Aktuell sind in der Zweiten Kammer 16 gewählte Parteien und insgesamt 20 Fraktionen vertreten.

«Es gibt so viel mehr, was uns verbindet, als was uns trennt. Ob einer seinen Kaffee mit Kuhmilch oder mit Hafermilch trinkt – hört auf mit dem Mist.»

Jesse Klaver, Chef der Groenlinks-Partei 

Der jetzige Schritt ist der Versuch, auf nationaler Ebene etwas zu bewegen. Regional und lokal läuft die Kooperation mässig. Dort sind Milieuunterschiede wichtiger; viele traditionelle Sozialdemokraten sehen in den Grünen besser verdienende Lifestyle-Politiker. Klaver forderte am Montag dazu auf, solche Ressentiments ausser Acht zu lassen: «Es gibt so viel mehr, was uns verbindet, als was uns trennt. Ob einer seinen Kaffee mit Kuhmilch oder mit Hafermilch trinkt – hört auf mit dem Mist.»

Wird Spitzenkandidat: EU-Kommissionsvize Frans Timmermans.

Klaver, 37, war als Spitzenkandidat im Gespräch, doch er winkte am Mittwoch ab. Er hatte 2017 wie ein Rockstar die politische Bühne betreten, doch der «Jesse-Effekt» verpuffte; es gelang ihm nicht, Partei und Wähler dauerhaft mitzureissen. Am Donnerstag wurde bekannt, dass EU-Kommissionsvize Frans Timmermans für das neue rot-grüne Bündnis antreten wird. Eine endgültige Entscheidung über den gemeinsamen Spitzenkandidaten soll im August fallen. Dann will Timmermans auch die EU-Kommission verlassen.

Die niederländischen Sozialdemokraten sind nicht die Einzigen in Europa, die gegen Bedeutungslosigkeit kämpfen. In Italien und in Frankreich sind die Sozialdemokraten längst marginalisiert. Die französische PS ist in ihrer Not der Nupes-Allianz mit Grünen und Linken beigetreten, als ein Juniorpartner, der sich dem bisweilen extremen Populismus von Jean-Luc Mélenchon (La France Insoumise) zähneknirschend beugen muss.

Abkehr vom «Neoliberalismus»

In Spanien droht den Sozialdemokraten am Wochenende ein Absturz. Zum Verhängnis könnte ihnen eine progressive Gesellschaftspolitik werden, die manche Bürger vielleicht überfordert hat. Allein die dänischen Sozialdemokraten können sich halten. Sie optieren für einen strengen Migrations- und Law-and-Order-Kurs sowie eine progressive Sozialpolitik – eine Mischung, die anderswo als Verrat an humanistischen Idealen angeprangert wird.

Auch für die PvdA-Spitze gilt das nicht als Option, für Groenlinks ohnehin nicht. Beide streben eine Art Versöhnung zwischen Marktwirtschaft und Ökologie an, vor allem eine Abkehr vom «Neoliberalismus», der aus ihrer Sicht die Ära Rutte kennzeichnete. «Ich will keine Gesellschaft, in der jeder für sich bleibt und so der Stärkste gewinnt», schrieb Klaver in einem Meinungsartikel.

Strategisch stehen beide Parteien trotzdem vor dem Problem, dass sie nicht als Alternative, sondern als fester Teil des Politik-Establishments gelten, von dem sich viele Bürger in den vergangenen Jahren abgewandt haben. Profitieren konnten davon eher konservative Kräfte wie die Bauern-Bürger-Bewegung, die das existierende Unbehagen über Globalisierung, Migration oder neue gesellschaftliche Rollenbilder explizit zum Thema machen.