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Sturm auf das Capitol
Die Szenen gleichen sich immer mehr dem Kino an

Ein idealistischer Underdog wie im Film: Sergeant Aquilino Gonell während seiner Anhörung vor dem Komitee des US-Kongresses.
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Es gibt nicht viele Regisseure, die es zu einem eigenen Adjektiv gebracht haben. Einer der wenigen ist Frank Capra, ein grosser Filmemacher des Hollywoods der Dreissiger und Vierziger – «capraesk», so das Wörterbuch Merriam Webster, meint «die Feier und den letztlichen Triumph eines Durchschnittsmenschen, Sentimentalität».

Der Inbegriff des Capraesken ist sein «Mr. Smith Goes to Washington» von 1939. James Stewart spielt da Jefferson Smith, einen einfachen Mann aus dem Westen, den ein Gouverneur, der Smith für manipulierbar hält, als Ersatz für einen verstorbenen Senator nach Washington schickt. Wo der Idealist Smith dann entgeistert reagiert auf die Intrigen und die Korruption um ihn herum und alles durcheinanderbringt.

James Stewart ist in Frank Capras «Mr. Smith Goes to Washington» entsetzt über die Korruption in Washington.

So gesehen war in dieser Woche eine Szene vor dem Kongress der Vereinigten Staaten durch und durch capraesk: Das Komitee, das den Sturm aufs Capitol am 6. Januar untersucht, spaltet, wie so vieles, die politischen Lager. Die Republikaner zogen ihre Repräsentanten zurück, nachdem die Sprecherin des Repräsentantenhauses, die Demokratin Nancy Pelosi, zwei Abgeordnete abgelehnt hatte, die wahrscheinlich nur auf ein Spektakel aus waren. Aber ein Spektakel sind die Anhörungen natürlich trotzdem.

Ganz besonders zu Herzen ging der Auftritt von Sergeant Aquilino Gonell von der Capitol Police. Mit brüchiger Stimme berichtete er, was ihm der Eid bedeutet, den er auf die Verfassung geschworen hat, und von einem ganzen Berufsleben, gewidmet der Verteidigung der amerikanischen Ideale – um am 6. Januar einem Mob gegenüberzustehen, der ihn mit Pfefferspray besprühte, mit Lasern blendete und nach ihm trat. Ein Mob, so Aquilino Gonell, der ironischerweise genau aus jenen Bürgern bestand, deren Schutz er sich verschrieben hat.

Grosses Kino

Dann, gegen Ende, berichtet er, wie er endlich seine Familie benachrichtigen konnte, dass er noch lebt, wie er um vier Uhr morgens zu Hause ankam und seine Frau, die ihn umarmen wollte, von sich wegschob, der chemischen Giftstoffe auf seiner Kleidung wegen. Und dann bricht er ab, sagt, «entschuldigen Sie», und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Gonell trug sein Statement nicht vor wie ein Profi, sondern wie ein idealistischer Underdog, der gar nicht gemacht ist für die Öffentlichkeit.

In der amerikanischen Politik ist die Inszenierung der Normalfall geworden: Gonells Aussage ging der Tränen wegen um die Welt, nicht, weil er etwas gesagt hätte, was man vorher nicht wusste. Die echten Szenen vor den Kommissionen im Capitol gleichen sich immer mehr dem Kino an, das sie immer wieder benutzt hat: Francis Ford Coppola liess Al Pacino in «The Godfather II» eine Rede halten, John Frankenheimer übernahm für «The Manchurian Candidate» (1962) Momente aus den Anhörungen des Kommunistenjägers McCarthy.

Die Anhörungen im Kino zielen auf Emotionen ab, auf Effekte, die inhaltliche Bewältigung ist Nebensache. Bei «Mr. Smith» erinnert man sich ja auch an seine leidenschaftliche Rede vor dem Senat und nicht an die korrupten Machenschaften, die er zu verhindern versucht.

Tut, was eine Frau tun muss: Jessica Chastain im Film «Miss Sloane».

Zu den neueren Hauptrollen, die das Capitol auf der Leinwand gespielt hat, gehört jene in John Maddens «Miss Sloane» (2016). Da spielt Jessica Chastain die Lobbyistin Elizabeth Sloane, vorgeladen wegen ihrer Rolle in der Waffengesetzgebung. Sie sitzt vor ihrem Mikrofon wie Gonell, sie zögert, schweigt, scheint sich um Kopf und Kragen geredet zu haben.

Am Ende hat alles, was man gesehen hat, einen doppelten Boden: Es war ein von Elizabeth Sloane von langer Hand geplantes Manöver, mit dem sie einen bestochenen Senator in die Falle lockt, wohl wissend, dass sie dafür ins Gefängnis gehen wird.

Die geläuterte Lobbyistin geht bewusst ins Gefängnis

Der Glaubwürdigkeit des politischen Washington nützt es nichts, aber für Hollywood war Integrität in der Politik eben schon zu Capras Zeiten ein Sonderfall. Und wenn die Dinge gut ausgehen für die Bürger, dann heben die Geschichten ab ins Märchenreich: Die geläuterte Lobbyistin geht bewusst ins Gefängnis, weil eine Frau tun muss, was eine Frau tun muss, Mr. Smith bricht am Ende zusammen – und sein korrupter Gegenspieler, von Schuldgefühlen überwältigt, wird ein neuer Mensch.

Einen Läuterungseffekt erhoffen sich die Demokraten vielleicht von Gonells Auftritt auch – und in einem Umfeld, in dem alles wirkt wie Theater, dränge eine nüchterne Aussage wohl auch nicht durch. Aber den grossen Knall, der das Geschick des Landes verändert, den gibt es nur im Kino. Die Leute im irdischen Amerika, die es zu überzeugen gälte, behaupten sogar, der ganze Sturm aufs Capitol sei eine Inszenierung der Linken gewesen. Ein doppelter Boden, der nicht einmal der Märchenfigur Elizabeth Sloane eingefallen wäre.