Wahlkampf in Brasilien«Gott segne euch. Und: Verletzt euch nicht!»
Der Wahlkampf in Brasilien ist brutal. Beide Seiten schrecken vor Lügen und Verleumdung nicht zurück. Und nach der Wahl an diesem Wochenende könnte es sogar noch schlimmer kommen.
Am Ende sah sich Dom Odilo Scherer genötigt, die Sache öffentlich klarzustellen. Scherer ist der Erzbischof von São Paulo, ein hochgebildeter Mann und strenggläubiger Katholik, der mit seinen 73 Jahren immer noch regelmässig die Messe liest. Dazu hat Scherer aber noch einen Twitter-Account, auf dem er vor allem fromme Kurznachrichten postet, Bibelzitate oder Botschaften des Papstes.
Mitte Oktober aber wandte er sich dann mit einem viel weltlicheren Anliegen an seine mehr als 100’000 Follower im Netz. «Es gibt Leute, die sich darüber wundern, dass ich Rot trage», schrieb der Geistliche und verwies auf sein Profilbild, wo man Scherer mit Scheitelkappe und Schulterkragen sieht, alles in Rot, so wie von der Kirche vorgeschrieben. Einige Nutzer im Netz glaubten aber scheinbar, die Kleidung sei vielmehr eine politische Botschaft und Scherer nicht nur Katholik, sondern auch Kommunist.
Waffenrechte gelockert, Umweltschutz geschwächt
Deshalb schrieben sie erboste Kommentare und wohl auch Nachrichten, so viele, dass Scherer glaubte, er müsse die Dinge klarstellen: «Rot steht für die Liebe zur Kirche und die Nähe zu den Märtyrern», schrieb er auf Twitter. Das aber löste noch mehr Wirbel aus, denn die Tatsache, dass ein hohes Oberhaupt der katholischen Kirche sich genötigt fühlt, die Farbe seiner offiziellen Amtskleidung zu rechtfertigen, zeigt, wie angespannt die Lage in Brasilien ist.
Am Sonntag findet in Südamerikas grösster Demokratie die Stichwahl für das Präsidentenamt statt, und schon jetzt gilt die Wahl als wichtigste in der jüngeren Geschichte des Landes. Zwei Lager stehen sich dabei so gut wie unversöhnlich gegenüber: Auf der einen Seite sind da die Anhänger des rechten Amtsinhabers Jair Bolsonaro, ein ehemaliger Fallschirmjäger-Hauptmann, der über Jahrzehnte als Aussenseiter im Parlament sass, bis er 2018 überraschend die Wahl gewann.
In den letzten vier Jahren hat seine Regierung Brasilien tiefgreifend verändert. Waffenrechte wurden gelockert und der Umweltschutz geschwächt, die Agrarindustrie und die evangelikalen Kirchen haben massiv an Einfluss gewonnen, während indigene Minderheiten und auch die Wissenschaft immer stärker unter Druck gekommen sind. Während der weltweiten Corona-Pandemie bezeichnete der rechte Präsident das Virus wiederholt als «Grippchen» und warnte vor angeblichen Nebenwirkungen der Impfungen. Fast 700’000 Menschen sind bislang an dem Erreger in Brasilien gestorben.
Die Pandemie und auch die Folgen von Russlands Krieg in der Ukraine haben das Land schwer getroffen.
Jair Bolsonaro steht Luiz Inácio Lula da Silva gegenüber, 76 Jahre alt und eine Ikone der linken Arbeiterpartei. Schon einmal hat Lula da Silva das Land regiert, von 2003 bis 2010. Es waren goldene Zeiten, in denen die Wirtschaft dank der weltweit hohen Nachfrage nach Rohstoffen boomte. Ebenso aber gab es Korruption und Vetternwirtschaft. Lula selbst schied als einer der beliebtesten Präsidenten in der Geschichte Brasiliens aus dem Amt, später aber wurde er wegen Geldwäsche und Korruption zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Sie verhinderte eine Kandidatur bei den Wahlen 2018, ein Jahr später aber wurde das Urteil gegen den linken Politiker aufgehoben. Nun tritt Lula vor allem mit dem Versprechen an, Brasilien wieder zu dem glücklichen Land zu machen, das es einst angeblich war, als er im Präsidentenpalast sass.
Einfach wird das nicht: Schon vor Corona war die Wirtschaft von Südamerikas grösster Demokratie angeschlagen. Die Pandemie und auch die Folgen von Russlands Krieg in der Ukraine haben das Land schwer getroffen. Die Inflation stieg kurzzeitig auf den höchsten Stand seit fast 20 Jahren, und auf einmal war auch wieder der Hunger zurück, den Brasilien eigentlich schon besiegt geglaubt hatte.
Teuer und wenig nachhaltig
In den vergangenen Monaten hat sich die Lage aber etwas gebessert. Die rechte Regierung hat die Inflation wieder in den Griff bekommen und den Konsum angekurbelt, vor allem mit Hilfszahlungen, die Millionen Menschen im ganzen Land heute Monat für Monat bekommen. Kurz vor den Wahlen wurden sie auf Druck von Jair Bolsonaro noch einmal ausgeweitet, der Betrag stieg von 400 auf 600 Real, umgerechnet etwa 110 Franken. Dazu gibt es hohe Subventionen für Treibstoff und Gas.
All das sei teuer und auch wenig nachhaltig, sagen Experten. Bei den Wählern aber zeigen die Massnahmen ihre Wirkung: Im ersten Wahlgang Anfang Oktober konnte Jair Bolsonaro überraschend 43 Prozent der Stimmen für sich gewinnen, während Lula da Silva mit 48,5 Prozent knapp einen Sieg verpasste. Für die Stichwahl am Sonntag sehen Umfragen nun zwar einen Sieg des linken Kandidaten voraus. Je nach Meinungsforschungsinstitut unterscheidet sich aber der Vorsprung, und längst gilt es nicht als sicher, dass die Umfragen am Ende recht behalten werden.
Tote und Verletzte
Ein Sieg Bolsonaros ist durchaus möglich und auch nicht unwahrscheinlich. Und selbst im Fall einer Niederlage stellt sich die Frage, ob der Amtsinhaber so einfach von der Macht lassen wird: Seit Monaten zweifelt Bolsonaro das elektronische Wahlsystem an, mit dem er selbst 2018 zum Präsidenten gewählt wurde.
Die Stimmung ist angespannt, immer wieder kommt es zu Gewalt, es gibt Verletzte und sogar Tote, und längst hat sich auch der Wahlkampf in eine Schlammschlacht verwandelt. «Es sind seltsame Zeiten, in denen wir leben», glaubt der katholische Erzbischof von São Paulo. Er lehne den Kommunismus genauso ab wie den Faschismus, schreibt Dom Odilo Scherer auf seinem Twitter-Profil. «Gott segne euch. Und: Verletzt euch nicht!»
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