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Kriegs- und Krisenfotografie
Geschichten jenseits der Angst

Revolution in Ägypten: Menschenmassen auf dem Tahrir-Platz in Kairo.
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Kairo, 11. Februar 2012. Am ersten Jahrestag der ägyptischen Revolution versammeln sich Zehntausende Menschen auf dem Tahrir-Platz. Mittendrin ist auch Julia Leeb. Tagsüber herrscht Festivalstimmung, am Abend macht sich Aggression breit. Ein Männermob attackiert die junge Fotoreporterin, verschleppt und misshandelt sie. Unbekannte Jugendliche retten Julia Leeb, sie ist am Ende ihrer Kräfte und am ganzen Körper verwundet. Sie verspürt Schmerz, Ekel und Angst. Doch am nächsten Tag steht sie wieder auf dem Tahrir-Platz.

«Ich wollte diesen Männern, die mich angegriffen hatten, den Triumph nicht gönnen», erklärt Julia Leeb im Gespräch mit dieser Zeitung. «Darum war es sehr wichtig für mich, weiterzumachen.» Und sie kann eigentlich gar nicht anders. «Ich folge meinem inneren Drang, die Welt zu sehen und zu verstehen», sagt Julia Leeb.

Seit über zehn Jahren bereist die Münchnerin als Journalistin den Erdball, mehr als 80 Länder hat sie besucht. Mit Foto- und Videokamera berichtet sie für renommierte Medien in aller Welt über Revolutionen und Kriege, gefährliche und abgeschottete Orte. «Mich interessieren vor allem Orte, wo keine Journalisten hingehen und wo keine Zeugen rauskommen.» Sie wolle Geschichten von Menschen erzählen, die wir sonst nicht erfahren würden, sagt Julia Leeb. Zudem gehe es ihr darum, ein Gegennarrativ zu den Erzählungen von Machthabern und Kriegstreibern aufzubauen. In einigen Ländern, wie zum Beispiel Syrien, Nordkorea und den Sudan, darf sie nicht mehr einreisen.

Frauen im Krieg:  Soldatin der Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung Nord.

Bei ihrer Mission, «die toten Winkel unserer Welt zu beleuchten», wie sie sagt, reiste Julia Leeb zum Beispiel 2015 in den Kongo, wo der tödlichste Konflikt unserer Zeit stattfindet, kaum beachtet von der Weltöffentlichkeit. In den letzten 20 Jahren starben im Kongo über fünf Millionen Menschen. Etwa 30 Prozent der Frauen sind Vergewaltigungsopfer. Missbrauch ist eine Kriegswaffe im Kongo, wo die Kämpfe im Osten des Landes toben.

Die beeindruckende Mama Masika

Im Kongo lernte Julia Leeb Rebecca Masika Katsuva kennen. Mama Masika, wie die Frau genannt wurde, hatte Schlimmstes erlebt. Sie wurde wiederholt vergewaltigt. Ihr Mann wurde vor ihren Augen getötet, und ihre Kinder wurden ebenfalls vergewaltigt. «Sie hätte sich für immer dem Schmerz hingeben und ewig hassen oder sich auch rächen können», erzählt Julia Leeb. Doch sie habe eine unglaubliche Kraft gehabt, genau das Gegenteil zu machen. Mama Masika gründete Frauenhäuser, ein Refugium für vergewaltigte Frauen. Zur Menschenrechtsaktivistin geworden, half sie Tausenden Frauen und gab diesen Zuversicht und Hoffnung zurück. Mama Masika ist die Person, «die mich am meisten beeindruckt hat in meinem ganzen Leben», sagt Julia Leeb. Mama Masika starb vor fünf Jahren 49-jährig an den Folgen einer Malaria-Infektion.

Vom Vergewaltigungsopfer zur Menschenrechtsaktivistin: Mama Masika.

Laut Julia Leeb ist Menschlichkeit ein Teil des Kriegs, der nie erzählt wird. Auch darum interessiere sie sich für die andere, also weibliche Seite des Kriegs. «In der männlich dominierten Kriegsberichterstattung geht es meistens um Militäreinsätze, Truppenbewegungen und Kollateralschäden», führt sie aus. «Aber: Wer kocht, wer unterrichtet, wer heilt, wer vergibt, wer liebt? Wer hält alles zusammen und handelt im Sinne einer Gemeinschaft? Oft sind es Frauen. Diese stillen Heldinnen kommen nie zu Wort.»

Andere Helden traf Julia Leeb in den Nuba-Bergen im Süden Sudans. Dort wirken Doktor Tom Catena und seine Frau Nasima. Während bewaffnete Konflikte ausgetragen werden, sind die beiden die einzige ärztliche Versorgung für eine Million Menschen. Es sind die Geschichten von grossartigen Menschen wie Doktor Tom und Mama Masika, die Julia Leeb faszinieren. Solche Hoffnungsträger gehören auch zu den Protagonisten in ihrem letzten Buch. Der Titel lautet: «Menschlichkeit in Zeiten der Angst». Von ihr stammt auch ein eindrücklicher Fotoband über Nordkorea: ein Paralleluniversum, konserviert in einer Zeitkapsel, weil es sich der Globalisierung verweigert.

«Mich interessieren vor allem Orte, wo keine Journalisten hingehen und wo keine Zeugen rauskommen»: Julia Leeb in einer Talkshow im ZDF, 2018.

Bereits als Teenager hatte Julia Leeb die Faszination fremder Länder kennen gelernt. So reiste sie etwa mit ihrer Mutter ins damalige Myanmar. Als junge Frau wollte sie für drei Wochen nach Südamerika gehen, um Spanisch zu lernen. Doch daraus wurden sechs Monate auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Und nach Deutschland kehrte sie erst nach sechs Jahren wieder zurück. Sie studierte internationale Beziehungen und Diplomatie in Madrid. Danach begann sie, sich für die arabische Welt zu begeistern. Die Arabische Revolution vor zehn Jahren verfolgte sie aus nächster Nähe. Viele ihrer Fotos gingen um die Welt.

Julia Leeb sieht sich nicht als Weltverbesserin. Doch mit ihrer Arbeit rüttelt sie die Öffentlichkeit auf, verändert das Denken von Menschen, und das bewirkt auch Gutes. Wegen ihrer Reportagen bekommt sie immer wieder Anfragen für Spenden, die in Hilfsprojekte fliessen sollen. Dank einer Spendensammlung konnte beispielsweise in Somalia eine Schule langfristig unterstützt werden. Rund 130 Kinder, wovon die Hälfte Mädchen sind, könnten dort den Schulunterricht besuchen, erzählt Julia Leeb. «Damit bekommen sie die Chance auf ein besseres Leben und dasselbe später auch ihre Kinder.»

Nordkoreanisches Paralleluniversum: Massenchoreografie in Arirang.

Leben und Tod sind sich sehr oft allzu nahe im Beruf von Julia Leeb. Bei ihren Reportagereisen gerät sie selbst immer wieder in Lebensgefahr. Zu Beginn des Libyenkriegs vor zehn Jahren ist sie nur knapp dem Tod entkommen. Auf dem Weg in die Stadt Brega war sie mit ihren Begleitern unter einen Granatenbeschuss geraten. Ihr Glück war, dass sie kurz vor dem Granateneinschlag das Auto verlassen hatte, um Fotos zu schiessen. Einer ihrer Begleiter starb im Fahrzeug in den Flammen. Sie irrte in der Nacht durch die Wüste. Als sie in Sicherheit war, blieb die Angst. «Dieser Tag hat alles verändert», schrieb sie später über den 14. März 2011.

Traumatisierende Erlebnisse gehören zur Arbeit der Kriegsberichterstatter. Belastende Langzeitfolgen sind laut Julia Leeb ein Tabu in der Branche. Niemand redet gern über Schlafstörungen, Flashbacks, Panikattacken, Angstzustände. «Mir hilft es sehr, wenn ich schreckliche Erlebnisse in meiner Arbeit verarbeiten kann, indem ich Fotoreportagen oder Filmprojekte realisiere», sagt sie. «Tut man das nicht, wird es zur Qual.» Sie hat das Glück, dass sie auf ein Netz toleranter Menschen zählen kann, Familie und Freunde, die sie emotional auffangen, wenn es nötig ist.

Arbeit mit Lebensgefahr: Das brennende Fahrzeug in der libyschen Wüste, mit dem Julia Leeb kurz zuvor noch unterwegs war.

Angst begleitet Julia Leeb heute noch bei ihren Erkundungen von Kriegs- und Krisengebieten. Doch sie habe gelernt, Angst zu überwinden. «Denn die Geschichten der Unsichtbaren und die Wahrheit liegen jenseits der Angst.» Die Fotojournalistin zieht es weiterhin in dunkle und gefährliche Gegenden der Welt. Ihre genauen Reiseziele und was sie dort machen will, verrät Julia Leeb vor der Abreise nicht. Derzeit ist sie in Afrika unterwegs – wiederum auf der Suche nach Geschichten, die noch nicht erzählt worden sind. Geschichten, die auch Hoffnung machen.

Julia Leeb: Menschlichkeit in Zeiten der Angst – Reportagen über die Kriegsgebiete und Revolutionen unserer Welt. 234 Seiten, 2021, Suhrkamp-Verlag.