Strassenschläfer in JapanGebettet auf Asphalt
Dösen im öffentlichen Raum ist in Japan eine Alltagserscheinung. Eine Extremform davon gibt es nun in Okinawa: Menschen schlafen auf den Strassen. Und das endet manchmal tödlich.
Tadataka Miyazawa ist noch nicht lange Polizeichef in der Präfektur Okinawa, seit Dezember erst. Und immer noch staunt er über sein neues Tätigkeitsgebiet im fernen Süden der japanischen Inselkette. Zu den Überraschungen zählt zum Beispiel der Umstand, dass sehr viele Leute in Okinawa auf der Strasse schlafen.
Und zwar nicht im übertragenen Sinn, wie man das bei Obdachlosen sagt, sondern tatsächlich teilweise in der Mitte befahrener Verkehrswege. 7221 Fälle wurden allein 2019 gemeldet. Rojo-ne heisst das Phänomen auf Japanisch. «Ich kannte den Begriff nicht einmal», hat Miyazawa kürzlich in der Zeitung «Mainichi» gesagt. Und weiter: «Ich glaube, das gibt es nur in Okinawa.»
Rojo-ne scheint eine Extremform des Inemuri zu sein. Inemuri wiederum beschreibt das Dösen im öffentlichen Raum und ist eine Alltagserscheinung in Japan. Es findet im Parlament statt, bei Geschäftsmeetings, in Pendlerzügen, auf Parkbänken. Es ist durchaus akzeptiert, sogar anerkannt als Symptom der funktionierenden Leistungsgesellschaft. Wer bis zur Erschöpfung fleissig ist, darf auch im Beisein anderer einnicken. Laut Japanologen gibt es einen Zusammenhang zwischen «Anwesenheitsschlaf» und japanischer Arbeitsmoral.
Nicht zu viel gearbeitet, sondern zu viel getrunken
Vermutlich sind die Japaner deshalb auch stolz darauf, dass sie 2019 in der Schlafstatistik der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit mit 442 Minuten durchschnittlicher Schlafzeit den letzten Platz belegten. Mediziner sind allerdings nicht begeistert. Überarbeitung ist ungesund. Andere finden die Eingenickten vor allem unterhaltsam.
In sozialen Netzwerken kursieren Bilder und Videos vom täglichen Schlafen in Japans Städten: Ein Herr liegt in der Tür einer U-Bahn, ein anderer hängt über dem Geländer eines laufenden Rollbandes. Aber bei den Strassenschläfern von Okinawa hört der Stolz endgültig auf. Denn diese schlafen meistens nicht ein, weil sie viel gearbeitet, sondern weil sie viel getrunken haben.
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Rojo-ne ist gefährlich: Sechzehn Unfälle hat es im vergangenen Jahr wegen der Strassenschläfer gegeben, drei endeten tödlich. Die Leute finden den Asphalt in Okinawa offensichtlich weiterhin bequem. Trotz Pandemie gab es im ersten Halbjahr 2020 schon wieder 2702 Notrufe wegen schlafender Menschen auf der Strasse. Wieder gab es Unfälle. Ein Strassenschläfer wurde ausgeraubt.
Bussen schrecken nicht ab
Warum in Okinawa? Andere Präfekturen zählen keine Rojo-ne-Fälle, glaubt die Polizei. Deshalb sehe es so aus, als gäbe es das woanders nicht. Ausserdem ist Okinawa eine Urlaubsregion, tropisches Klima. Man fühlt sich hier wohl. Die Polizei berichtet, manche würden sich ausziehen, bevor sie sich auf der Strasse ausstrecken, weil sie glaubten, sie seien zu Hause. Und die lokale Spezialität ist ein Reisschnaps. Der Awamori ist gehaltvoll und beliebt.
Mit Radioansagen und einer mahnenden Fotoausstellung hat die Polizei unter anderem versucht, potenzielle Strassenschläfer davon zu überzeugen, dass ein Bett immer die bessere Wahl ist. Eine mögliche Geldbusse von bis zu 50’000 Yen, also etwa 430 Franken, soll abschrecken. Aber bisher? Keine Verbesserung. Vielleicht würde etwas ganz anderes helfen: unbequemere Strassen.
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