Aus dem Flüchtlingscamp an die WM«Wer dort aufwächst, lernt das Leben auf die harte Tour»
GC-Stürmer Awer Mabil lebte zehn Jahre lang in einem der grössten Flüchtlingscamps der Welt – hier erzählt er seine Geschichte.

Irgendwie fühlte es sich im Training anders an am Donnerstag, Awer Mabil kam mehr ins Schnaufen als sonst. Das hatte wohl vor allem mit dem Abendessen vom Mittwoch zu tun. Das GC-Team hatte sich auf ein Fondue getroffen, Mabil genoss es. «Das macht süchtig», sagt er und lacht.
Mabil ist Flügelstürmer bei GC, seit einigen Monaten ist er in Zürich. Er hat sich eingelebt, in elf Partien kommt er auf sieben Skorerpunkte. Zuletzt lieferte er seinen Beitrag zu einem 5:0 über Lausanne, sein Tor zum 4:0 feierte er, indem er seine Teamkollegen mit Schneebällen bewarf.

Mabil ist aber auch ein Mann, der einen langen Weg hinter sich hat. Er ist australischer Nationalspieler und spielte bereits in Dänemark, Portugal, der Türkei, Spanien und Tschechien, bevor er bei den Grasshoppers landete. Geboren aber ist er in einem Flüchtlingscamp in Kenia.
Hier erzählt der 28-Jährige seine bewegende Geschichte.
Die Kindheit in Kenia
«Meine Eltern stammen aus dem Südsudan, sie haben das Land 1994 wegen des Krieges verlassen. Sie kamen im Flüchtlingscamp Kakuma unter, dort bin ich 1995 geboren. Kakuma ist eines der grössten Lager der Welt. Früher waren hauptsächlich Südsudanesen dort, heute gibt es etwa 20 verschiedene Nationalitäten. Früher konnte ich mit jedem im Lager sprechen, aber jetzt kann es sein, dass dein Nachbar aus Burundi kommt. Das letzte Mal, als ich dort war, lebten 190’000 Menschen in Kakuma.
Ich lebte zehn Jahre in Kakuma. Es war eine gute Zeit. Ich dachte nie wirklich über die Probleme nach. Klar, wir wussten, dass Menschen starben, unsere Verwandten sagten uns das. Aber weil man es nicht anders kennt, macht man einfach weiter, man vergisst es und lebt einfach weiter sein Leben als Kind.
Wer dort aufwächst, lernt das Leben auf die harte Tour. Eine Sache, die Kakuma mich gelehrt hat, ist, bescheiden zu sein. Eine andere ist, hart für das zu arbeiten, was man will. Was ich auch lernte, ist Respekt. Ich bin damit aufgewachsen, barfuss Fussball zu spielen und gegen Steine zu treten. Jetzt darf ich auf einem Rasen spielen. Darum respektiere ich die Leute, die sich um den Rasen kümmern.

Die Schulen in Kakuma sind anders. In einem Raum können 200 Kinder sein. Manche sitzen draussen vor dem Fenster und schreiben mit. Meine Freunde und ich waren in der Schule, spielten aber lieber Fussball. Wir konnten nichts lernen, weil die Klasse so voll war. Und es interessierte niemanden wirklich, ob man da war oder nicht.
Ich sah als Kind viele Menschen mit Trikots von Manchester United und Arsenal, Zidane, Van Nistelrooy oder Henry. Das waren die grossen Mannschaften und Spieler. Aber keiner von uns hat je gedacht, dass er es von Kakuma aus auch dorthin schaffen würde. Erst als wir in Australien ankamen, habe ich meinen Onkel gebeten, mich bei einem Verein anzumelden.»
Das neue Leben in Australien
«Wie viele Geflüchtete wurden wir mittels eines humanitären Visums umgesiedelt. Mein Onkel lebte damals schon in Adelaide, er sparte und bezahlte meiner Familie das Flugticket. So kamen wir nach Australien, da war ich zehn Jahre alt.
Als ich ankam, dauerte es eine Weile, bis ich in einem Team spielen konnte. Erst mit zwölf oder 13 trat ich einem Verein bei. Von da an dachte ich mir: Die Träume der Kinder im Camp lasten jetzt auf mir. Fussballprofi zu werden, war nicht nur mein Traum, es war der Traum der Kinder.
Das trug ich immer in mir. Ich habe immer an dieses Camp gedacht und daran, wie viele Kinder sich diese Chance wünschten. Und jetzt sehen mich die Kinder in Kakuma, und sie können sagen: ‹Hey, da steht nicht Ronaldo auf dem Trikot, da steht Mabil, er ist bei uns geboren, jetzt spielt er Fussball in Europa und fährt an die Weltmeisterschaft!›
Im Verein in Adelaide war es cool. Wir hatten richtige Bälle, während wir im Camp Bälle aus Plastiktüten gebastelt hatten. Es war auch alles organisierter. Als ich aufgewachsen bin, haben wir mit einem Ball gespielt, und es waren bis zu 50 Leute auf dem Feld. Man berührt also vielleicht alle fünf Minuten den Ball. Wenn du in Kakuma den Ball bekommst, versuchst du ihn zu behalten, denn du wirst ihn danach lange Zeit nicht berühren. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich wusste, wie ein Team funktioniert.
Auch sonst war Australien speziell, zum Teil seltsam. Am Anfang wollte ich zurück. Es war so anders. Jedes Haus hatte einen Zaun. Wo ich aufgewachsen bin, gab es keine Zäune. Man konnte einfach in das Haus einer anderen Person gehen und sagen: ‹Hey, lass uns spielen gehen.› Die ersten zwei oder drei Monate verbrachte ich in Adelaide zu Hause und hatte kaum soziale Kontakte.
Das war langweilig, weil ich rausgehen und mit anderen Kindern spielen wollte. Ich kam in die Schule und konnte die Sprache nicht, also habe ich nur auf die Pause gewartet, um rauszugehen und zu spielen. Das war die einzige Möglichkeit, Freunde zu finden. Nachdem wir die Sprache dann gelernt hatten, begannen meine Geschwister und ich, uns mehr zu integrieren.»
Das Privileg, Fussballprofi zu sein
«2022 schafften wir die Qualifikation für die WM in Katar, ich traf im entscheidenden Spiel im Penaltyschiessen. Das war gross. Ich wusste nicht, wie gross es war, bis ich zurück nach Australien kam. Für Australien war es die vierte WM in Folge. Für mich war es vor allem besonders, weil die Kinder im Camp nun sehen konnten, dass jemand, der aus ihrer Umgebung kommt, zur WM fahren kann.

Ich habe jetzt das Privileg, Fussball zu spielen. Ich bekomme Geld, mit dem ich mich um meine Familie und um andere Menschen kümmern kann. Seit einer Weile führe ich eine Non-Profit-Organisation, mit der ich Menschen in Kakuma unterstütze. Wir begannen damit, den Kindern Fussballschuhe zu schenken. Aber wir wollen auch die Gleichstellung der Geschlechter fördern. Wir helfen im Spital, wir helfen im Bildungswesen. Es geht also nicht mehr nur um Fussball. Darum geht es für mich: zurückzugehen und zu helfen, wo ich kann.»
Die ersten Monate bei GC
«In Zürich gefällt es mir sehr gut. Ich habe es bisher nur zweimal in meiner Karriere erlebt, dass ich so ein gutes Gefühl in einem Team hatte wie jetzt. In Adelaide, als ich jung war, und dann in Dänemark, wo ich viele Jahre spielte.
Hier sprechen alle Englisch, das hilft zu 100 Prozent. Es gibt eine Menge Ausländer, ich kann ich selbst sein. Das hat es mir leichter gemacht, mich zu integrieren, ich kann Englisch sprechen und meine Witze machen.
Mein bester Freund im Team ist Ayumu Seko. Ich weiss nicht, warum. Wir sitzen nebeneinander im Bus und machen ständig Witze übereinander. Er ist wie mein kleiner Bruder, ein wunderbarer Mensch. Ich kenne ihn jetzt seit ein paar Monaten und habe das Gefühl, ihn schon sehr lange zu kennen.
Auch viele andere Teamkollegen haben mich mit offenen Armen empfangen. Aber Seko und ich, wir können uns ansehen, ohne etwas zu sagen, und müssen einfach lachen. Es ist eine ganz besondere Beziehung. Ich kann es kaum erwarten, eines Tages gegen ihn zu spielen – er mit Japan, ich mit Australien.»
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