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Kanon der Quarantäne
Gabriel García Márquez’ Roman «100 Jahre Einsamkeit»

Zu seinem Tod im April 2014 ehrte man den kolumbianischen Nobelpreisträger Gabriel García Márquez in seiner Geburtsstadt Aracataca mit Porträts und Flaggen. (Nicht nur) sein Hauptwerk ist von Aracataca inspiriert.
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Macondo ist ein im «brütenden Sumpfland verirrtes Dorf», heisst es im Roman «Hundert Jahre Einsamkeit», der seinem Autor Gabriel García Márquez 1967 den Durchbruch bescherte und 1982 den Literaturnobelpreis. Gegründet von dem getriebenen Helden José Arcadio Buendía, liegt das Dorf weit ab vom Schuss, an einem kolumbianischen Fluss zwischen Moor, Meer und Gebirge. Aber die Welt knallt trotzdem hinein: Die Konflikte des Landes und des Kontinents im 19. und 20. Jahrhundert spiegeln sich in der 500-seitigen Familiensaga, in der ein halbes Dutzend Buendía-Generationen ihren Auftritt haben.

Anfangs erinnern die Steine des Flussbetts an «prähistorische Eier. Die Welt war noch so jung, dass viele Dinge des Namens entbehrten.» Doch mit der Zeit bilden sich diese Namen, Mythen und Märchen, derweil sich die Story in weiten Schlingen vom ersten Buendía bis zum letzten windet.

Im Zimmer der Wirklichkeit

Unschuld gibts nicht: Man (und Frau) liebt inzestuös, lebt tumultuös. Einsam sind sie alle. Es gibt Vergewaltigungen, Ehebrüche und viele Kinder, die ähnliche Namen tragen; manche zudem ein Schweineschwänzchen. Und der irre Urahn José Arcadio findet am Ende nicht mehr ins «Zimmer der Wirklichkeit» zurück.

Wir schon: Der linke Schriftsteller, der sich von seinem Geburtstort Aracataca und den Legenden seiner Grosseltern inspirieren liess, erzählt nämlich auch vom langen Bürgerkrieg in Kolumbien, von der Ausbeutung durch die US-amerikanische United Fruit Company, dem Bananenmassaker an streikenden Arbeitern 1928. Er erzählt vom ersten Kontakt des Dorfs mit der Aussenwelt, als der Ort noch ohne Staat und Kirche funktioniert – Zigeuner präsentieren den staunenden Dörflern Magnete, Lupen, Eis. Später zieht ein Landrichter nach Macondo: Ein Entrinnen aus dem System gibts nicht, dafür irgendwann Bahn und Post.

Darauf stürzt das hart arbeitende Volk in eine Schlaflosigkeit, die temporär eine Art Alzheimer-Epidemie auslöst. Nach dem Abzug der Bananengesellschaft verfällt Macondo zusehends. In einer Sintflut ersäuft es schier; zeitweise regnets auch tote Vögel. Schliesslich vernichtet ein Wirbelsturm das Dorf.

Kulttext des magischen Realismus

Oft wurde der pralle Roman als Panorama des lateinamerikanischen Schicksals seit der Ankunft der Europäer gelesen – und als eigentlicher Offenbarungstext des magischen Realismus in der lateinamerikanischen Literatur. Doch auch ohne (literatur-)historische Kenntnisse fesselt «Hundert Jahre Einsamkeit» wie Lianen im Dschungel. Und dies ebenso in der neuen, nüchternen Übertragung von Dagmar Ploetz (2017) wie in der getragenen ersten deutschen Übersetzung von Curt Meyer-Clason, die unsereins als Teen in den Bann schlug mit Sätzen wie «Die Gleichgültigkeit der Menschen stand im Widerspruch zur Gier des Vergessens, die allmählich die Erinnerungen erbarmungslos zernagte». In Márquez’ Sumpfland will man sich verirren.