Vandana Shiva im PorträtFurchtlos gegen das «Giftkartell»
Die Wissenschaftlerin und Aktivistin aus Indien ist Schirmherrin des World Ethic Forum in Pontresina. Als Pionierin der biologischen Landwirtschaft fordert sie die Agrarindustrie heraus.
«Wir dürfen die Macht nicht den Leuten überlassen, die unseren Planeten zerstören», sagt Vandana Shiva. Die Leute, die sie anprangert, ortet sie in den Chefetagen der Agrarchemiekonzerne, aber auch in den Regierungen, Banken und Organisationen, die gemeine Sache mit dem «Giftkartell» machten. Mit «Giftkartell» meint die indische Aktivistin die Unternehmen der Saatgut- und Pestizidindustrie. Mit dem früheren US-Konzern Monsanto, heute Bayer-Monsanto, pflegt sie eine innige Feindschaft, schon seit Jahrzehnten.
Vandana Shiva hat schon manche politischen Kampagnen und Gerichtsverfahren gegen Monsanto & Co. in Gang gebracht und dabei immer wieder wichtige Siege errungen. In ihrer Heimat Indien zum Beispiel erreichte sie, dass Saatgut nicht patentiert werden darf, eine Niederlage für Monsanto. Unermüdlich kämpft sie gegen die Anwendung von Gentechnik durch die Agrochemie und die Biopiraterie, ebenso gegen den Einsatz von Pestiziden und Kunstdünger sowie gegen die Zerstörung bäuerlicher Existenzen. Ihr Kampf richtet sich gegen die Plünderung und Zerstörung unseres Planeten, aber auch gegen die Ausbeutung von Menschen.
Biodiversität ist die Grundlage des Lebens
Seit den 1980er-Jahren engagiert sie sich für eine Alternative zur chemisch intensivierten Landwirtschaft, die sie für Hungersnöte, Klimakrise, Umweltschäden und Gesundheitsprobleme verantwortlich macht. Ihr Ideal ist eine ökologische und nachhaltige Landnutzung, die in der Hand von Bäuerinnen und Bauern liegt. Im Zentrum steht der Erhalt der Natur und ihrer biologischen Vielfalt. Schliesslich sei Biodiversität die Grundlage des Lebens, betont sie immer wieder. Biodiversität sei eine Voraussetzung für Ernährungssicherheit.
«Wir haben die Macht, mit der Natur zu arbeiten – und nicht gegen die Natur», sagt sie in einem Videogespräch mit unserer Zeitung im Hinblick auf das erste World Ethic Forum in Pontresina an diesem Wochenende. Dort tritt sie als Schirmherrin des Anlasses und Eröffnungsrednerin auf. «Ethik muss unser Denken und Handeln bestimmen.» Und weiter: «Wir brauchen ein Wirtschaftsmodell, das sich an den Grenzen der Erde und an Gerechtigkeit und Gemeinwohl orientiert.» Die Aktivistin, die bald 70 Jahre alt wird, sprüht vor Energie. Wenn sie über ihre Anliegen spricht, tut sie dies mit Leidenschaft, freundlich im Ton, entschlossen in der Sache.
Vandana Shiva gilt längst als eine der wichtigsten globalen Aktivisten für Biodiversität und ökologische Landwirtschaft. Sie arbeitete für UNO-Organisationen, Regierungen, Expertengremien und Nichtregierungsorganisationen auf der ganzen Welt. 1993 erhielt sie den «Right Livelihood Award», der als «Alternativer Nobelpreis» besser bekannt ist. Sie gilt als führender Kopf der Antiglobalisierungsbewegung, wird auch als «Stimme der Dritten Welt» bezeichnet. Seit 2005 ist sie Mitglied des «World Future Council», der Lösungen sucht, damit Menschen in der Zukunft auf einem gesunden und friedlichen Planeten leben können.
In ihrem Heimatland Indien gründete die Aktivistin bereits in den 1980er-Jahren ein interdisziplinäres Institut für Wissenschaft, Technik und Ökologie sowie eine ökologische Organisation namens Navdanya («Neun Samen»). Mit Navdanya entstanden landesweit über 150 kommunale Saatgutbanken. Damit konnte eine Vielfalt von Saatgut für die lokalen Bauern sichergestellt und vor der Agrarindustrie gerettet werden. «Saatgut gehört der Menschheit», so Shiva, «es steht für das Recht auf Ernährung, für das Teilen, aber auch für Demokratie und Frieden.» Die Erddemokratie beginnt mit der Ernährungsdemokratie: So lautet eine ihrer Visionen. In ihrer idealen Welt herrscht der Mensch nicht über die Natur, ebenso wenig der Mann über die Frau. Als Ökofeministin, die sie auch ist, will Vandana Shiva den patriarchalischen Kapitalismus überwinden.
Vandana Shiva setzt auf gewaltfreien Widerstand. Dabei orientiert sie sich an Mahatma Gandhi.
Bevor sie zur Aktivistin für Kleinbäuerinnen und -bauern, Ökologie und biologischen Landbau wurde, hatte Vandana Shiva eine naturwissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen und in Quantenphysik promoviert. Zwei dramatische Ereignisse im Jahr 1984 gaben ihrem Leben eine andere Richtung. «Damals kam es zu Bauernaufständen und zum Ausbruch grosser Gewalt im Punjab, der Region in Indien, wo die zerstörerische sogenannte grüne Revolution zuerst eingeführt wurde», erzählt sie. Dabei seien industrieller Dünger, Pestizide und neues Saatgut importiert worden, «die einen höheren Ertrag versprachen, aber auch die Bauern in ein Abhängigkeitsverhältnis brachten, Umweltschäden verursachten und so die Bevölkerung schädigten».
Im selben Jahr ereignete sich der fatale Brand in einer US-amerikanischen Pestizidfabrik in Bhopal, bei dem mehrere Tonnen giftiger Stoffe entwichen mit dem Resultat, dass Tausende Menschen starben. «Ich wollte verstehen, warum die Landwirtschaft so brutal geworden war», sagt Vandana Shiva. «Darum beschloss ich, den Rest meines Lebens herauszufinden, wie man gewaltfreie Landwirtschaft betreiben kann.»
Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Landwirtschaft setzt Vandana Shiva auf politisches Engagement und auf gewaltfreien Widerstand gegen das «Giftkartell» der Agrarindustrie. Dabei orientiert sie sich an Mahatma Gandhi. Sie lobt die jungen Menschen, die sich in der Bewegung von «Fridays for Future» engagieren. Zum zivilen Ungehorsam gehöre auch das Ankämpfen gegen Unwahrheiten. Damit meint sie «Lügen wie die, dass Agrarchemie die Welt ernähren kann oder dass Pestizide, also Agrargifte, notwendig und sicher seien».
Vandana Shiva hat viele Anhänger, aber auch etliche Kritiker. Ihre Thesen sind nicht unumstritten. Kritik kommt nicht nur aus der Agrarindustrie, sondern auch aus Teilen der Wissenschaft. Einwände gegen ihre Ideen und Vorschläge weiss sie rasch zu kontern. Beispielsweise verweist sie auf Daten der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO, wonach es mit Biolandwirtschaft möglich wäre, die ganze Weltbevölkerung zu ernähren. Oder sie zitiert aus eigenen Studien, die zum selben Schluss kommen. Wie bei allen kontroversen Themen lässt sich nicht abschliessend klären, welche Studien die zutreffendsten sind.
Ihr neuestes Buch «Wer ernährt die Welt wirklich?» ist eine Abrechnung mit der Agrarindustrie. Darin heisst es zum Beispiel: «Lebendiger Boden und Biodiversität ernähren die Welt, nicht chemische Düngemittel und giftige Monokulturen.» Oder: «Kleinbauern ernähren die Welt, nicht industrielle Grossbetriebe.» Oder auch: «Lokalisierung ernährt die Welt, nicht Globalisierung». Das Fazit: «Agrarökologie ernährt die Welt.»
Indien als Vorreiter der Biolandwirtschaft
Laut Vandana Shiva findet die Agrarökologie weltweit immer mehr Anhänger. Eine Vorreiterrolle spielt Indien, woran die prominente Aktivistin massgeblichen Anteil hat, weil sie als Expertin bei nationalen und regionalen Gesetzgebungen mitwirkte. Im Bundesstaat Sikkim im Nordosten Indiens wird seit 2016 nur noch Bio-Landwirtschaft betrieben, und das scheint zu funktionieren. Pestizide, Kunstdünger und Gentechnik sind in Sikkim per Gesetz verboten, die Bauern verwenden pflanzliche Insektenschutzmittel, organischen Dünger oder Kompost. 8 von 28 Bundesstaaten Indiens und Millionen Bauern erproben die Umstellung auf Biolandwirtschaft. Das sei auch das Ziel der indischen Regierung, wie Vandana Shiva zufrieden festhält.
Lässt sich dieses Agrarmodell ohne weiteres auch auf europäische Verhältnisse übertragen? «Das kann überall funktionieren», ist Vandana Shiva überzeugt. «Wir haben die Macht, kreativ zu sein und Neues auszuprobieren. Alle Paradigmenwechsel beginnen klein, bevor sie zu einer grossen Welle werden.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.